NOTIERT IN PARIS

Lebensqualität mit und ohne Atomindustrie

Der neue Wirtschaftsnobelpreisträger Jean Tirole ist nicht nur einer der angesehensten Ökonomen im Land, sondern scheint sich auch beim Thema Lebensqualität auszukennen. Denn er gründete 2007 in Toulouse die School of Economics. Gerade diese Stadt...

Lebensqualität mit und ohne Atomindustrie

Der neue Wirtschaftsnobelpreisträger Jean Tirole ist nicht nur einer der angesehensten Ökonomen im Land, sondern scheint sich auch beim Thema Lebensqualität auszukennen. Denn er gründete 2007 in Toulouse die School of Economics. Gerade diese Stadt im Südwesten Frankreichs gehört zu den Metropolen des Landes mit der höchsten Lebensqualität, wie eine gerade vom Statistikamt Insee veröffentlichte Studie zeigt.Im Einklang mit den Empfehlungen der von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy eingesetzten Kommission zur Messung von wirtschaftlicher Leistung und sozialem Fortschritt unter Leitung des Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz haben die Insee-Statistiker die Lebensqualität im Land untersucht. 27 Indikatoren wurden berücksichtigt wie die Sterblichkeitsrate, der Zugang zu Kultur und Sport, das Niveau der Schul- und Universitätsabschlüsse, die Beschäftigungsrate, Durchschnittsgehälter sowie der Gehaltsunterschied zwischen weiblichen und männlichen Arbeitnehmern.In der Studie finden sich, was die Lebensqualität angeht, an der Spitze vor allem westfranzösische Regionen und Départements wie die Pays de la Loire, l’Aquitaine, die Bretagne, Poitou-Charentes, aber auch der Großraum Paris und das französische Einzugsgebiet von Genf. Am Ende der Rangliste stehen dagegen vor allem im Osten Frankreichs gelegene Départements wie l’Yonne, Nièvre, Hautes-Alpes, aber auch die Meuse, l’Aude und die Pyrénées-Orientales. Wie auch die Glücksstudie der Deutschen Post zeigt die französische Untersuchung, dass Reichtum nicht alles ist. Dann nämlich müsste Paris klar an der Spitze stehen. *Es mag ein Zufall sein. Und doch ist es bemerkenswert, dass sich die französische Atomindustrie genau an dem Tag, an dem die Abgeordneten der Nationalversammlung über das Energiewendegesetz abstimmen sollen, eine eigene Messe gönnt. Sie eröffnet am heutigen Dienstag in Le Bourget bei Paris die erste “World Energie Exhibition”. Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace empfinden dies als Provokation – zumal das Energiewendegesetz, wie von Präsident François Hollande im Wahlkampf versprochen, vorsieht, den Anteil der Atomenergie an der Stromversorgung Frankreichs bis 2025 von derzeit 75 % auf 50 % zu senken. Wie genau das geschehen soll, steht zwar nicht im Gesetzentwurf, doch Atom-Lobbyisten warnen, dass dann 22 der insgesamt 58 französischen Reaktoren abgeschaltet werden müssten. Angesichts der hohen Kosten für die Stilllegung zweifeln Beobachter nun daran, dass es überhaupt so weit kommen wird.Trotz oder gerade wegen des Energiewendegesetzes unterstützt der französische Staat die Atomindustrie bei der Messe, da er den Export fördern will. Denn der Industriezweig hat sich noch nicht von den Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima erholt, wie das Beispiel von Areva zeigt. Der Atomkonzern musste im ersten Halbjahr einen Verlust hinnehmen und kündigte nun den Verkauf von Unternehmensanteilen sowie die Reduzierung von Investitionen an, um einer Abstufung durch die Ratingagentur S & P zu entgehen. GDF Suez wiederum leidet darunter, dass drei ihrer sieben Reaktoren in Belgien abgeschaltet werden mussten. *Indirekt um die Zukunft der französischen Atomindustrie geht es auch bei der Verwaltungsratssitzung des Stromriesen EDF (Electricité de France) am Donnerstag. Dort will das Nominierungskomitee des Energieversorgers, der die 58 französischen Atomreaktoren betreibt, die Liste der zwölf Verwaltungsratsmitglieder vorlegen, die Ende November von den Aktionären abgesegnet werden soll. Die Frage ist nun, ob sich der Name von EDF-Chef Henri Proglio darauf befinden wird. Sein Mandat läuft im November aus. Der Manager, der als Vertrauter von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy gilt, würde gerne verlängern. Doch um seinen Posten ist ein Machtkampf entbrannt. Ex-Arbeitgeberchefin Laurence Parisot hat Interesse bekundet. Und Ex-Areva-Chefin Anne Lauvergeon würde die Situation gerne nutzen, um einen eigenen Vertrauten für das Amt durchzusetzen, heißt es in Paris.