NOTIERT IN MOSKAU

Lehren aus dem Gefängnis

In einem Punkt stimmen Juristen und der staatliche Sicherheitsapparat in Russland überein: Würden die Gesetze streng und konsequent angewendet, säße die Hälfte der Bevölkerung aufgrund der flächendeckenden Korruption und anderer Vergehen hinter...

Lehren aus dem Gefängnis

In einem Punkt stimmen Juristen und der staatliche Sicherheitsapparat in Russland überein: Würden die Gesetze streng und konsequent angewendet, säße die Hälfte der Bevölkerung aufgrund der flächendeckenden Korruption und anderer Vergehen hinter Gittern oder würde zumindest eine empfindliche Strafe bekommen. Weil das aber nicht machbar ist, gehen die Strafverfolgungsbehörden selektiv vor und demonstrieren Aktivität dadurch, dass sie sich an die traditionelle Diktatorendevise halten: Den Freunden und politisch loyalen Bürgern ist alles erlaubt, für die Feinde der aktuellen Machthaber aber gilt das Gesetz in all seiner Härte.Wie dem auch sei, jedenfalls trifft man im Land relativ leicht auf Menschen, die schon mal zu einer Haftstrafe verurteilt waren oder nach denen zumindest gefahndet wird. Das müssen gar nicht unbedingt politische Häftlinge sein. So der Sitznachbar im Flugzeug vor einigen Jahren, der von Weißrussland wegen einer Betrugsangelegenheit über Interpol zur Fahndung ausgeschrieben war, von Russland aber nicht ausgeliefert wurde, weshalb er seelenruhig im Inland seinen Geschäften nachging (ehe er übrigens – viele Zeit später – ermordet aufgefunden wurde).Auch Verlierer im unlauteren unternehmerischen Wettbewerb gehen schon mal hinter Gitter, wenn der Stärkere sich mit den Strafverfolgungsbehörden zusammentut, um einen Konkurrenten auszuschalten. Es sei ihm nie ganz klar geworden, warum er acht Jahre im Lager habe zubringen müssen, erzählte dieser Tage ein Taxifahrer, nennen wir ihn Timur, im Gespräch. Und als er vor zwei Jahren freigegangen sei, seien die, die er als Drahtzieher wähnte, bereits tot gewesen. Im Übrigen lieferte Timur einen Einblick in das Innenleben russischer Strafanstalten. Sofern man sich nicht in der “roten Zone” der Massenmörder und Triebtäter befinde, habe man mit dem nötigen Geld Zugang zu allen möglichen Annehmlichkeiten. Wer sich Rauschgift beschaffen möchte, kein Problem. Ja, selbst Prostituierte könne man sich über Bestechung der Aufseher oder der Gefängnisleitung organisieren.Im Mikrokosmos zeigt sich so das typische Dilemma des autoritären Systems. Was ganz oben und in der Kommunikation der Staatsführung nach außen als Effizienz der harten staatlichen Hand daherkommt und ausgegeben wird, funktioniert nach unten hin nur höchst mangelhaft bis gar nicht. Denn nicht das Gesetz und das Recht als solches ist das letzte Ordnungsprinzip bzw. der allgemein akzeptierte Orientierungspunkt für die Gesellschaft. Gültigkeit hat, was die jeweilige nächste Obrigkeit für situativ gut befindet. Ein altes russisches Sprichwort bringt das Phänomen pikant auf den Punkt: “Russland ist groß, und der Zar ist weit.” Soll heißen, in einem Land mit diesen Ausmaßen und mit diesen korrupten Strukturen kann der Staatschef ohnehin nie herausfinden, was der kleine Bürger letztendlich tut und ob er die Anordnungen von oben auch ausführt. Historisch funktionieren das System des staatlichen Sicherheitsapparats und die Machtvertikale ganz einfach nicht effizient.Gerade für Russland sei daher ein immer autoritäreres Regime zum angeblichen Zwecke administrativer oder eben auch wirtschaftlicher Effizienzsteigerung sinnlos, erklärte einer aus den Top Ten der russischen Banker vor einiger Zeit im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Denn de facto werde der gewünschte Gehorsam nach oben nur minimal gelebt. Der Rest sei reine Simulation. Und zwar, so der Banker weiter, im Unterschied zu Ostasien, sprich China, wo seines Erachtens schon allein aufgrund der kulturell und religiös anders gelagerten Tradition Gefolgschaft und Gehorsam mehr gelebt und weniger simuliert würden. Daher komme es, dass auch staatliche Betriebe in China effizienter seien als in Russland.Wie dem auch sei – zurück zu Timur: Er selbst, so erzählt er, habe im Gefängnis ausgiebig zu lesen begonnen. Und nach der Lektüre der Tora und des Neuen Testaments sei er beim Koran als überzeugendstem Buch hängengeblieben. Nein, radikaler Muslim sei er nicht, im Gegenteil: er wolle allen helfen. Ob es sinnvoll sei, ohne Geld nach Deutschland auszuwandern und dort neu anzufangen, fragt er am Schluss. Ich rate ab. Er nickt verständnisvoll – und verabschiedet sich.