EZB VOR WICHTIGEN WEICHENSTELLUNGEN

Leitzinswende rückt weiter in die Ferne

Von Mark Schrörs, Frankfurt Börsen-Zeitung, 6.3.2019 Angesichts der merklichen Abschwächung der Euro-Konjunktur erwarten die meisten Volkswirte und Marktteilnehmer eine erste EZB-Zinserhöhung nun allenfalls Mitte 2020 - wenn überhaupt. Noch vor...

Leitzinswende rückt weiter in die Ferne

Von Mark Schrörs, FrankfurtAngesichts der merklichen Abschwächung der Euro-Konjunktur erwarten die meisten Volkswirte und Marktteilnehmer eine erste EZB-Zinserhöhung nun allenfalls Mitte 2020 – wenn überhaupt. Noch vor wenigen Monaten hatten sie damit im Spätsommer oder spätestens Ende 2019 gerechnet. Bundesbankpräsident Jens Weidmann hält die neuen Erwartungen für plausibel, wie er vergangene Woche sagte. Orphanides-RegelFür eine spätere Zinswende spricht nach Ansicht der Commerzbank auch eine geldpolitische Regel, die die Europäische Zentralbank (EZB) selbst Ende vergangenen Jahres hervorgehoben hat: die Orphanides-Regel des früheren zyprischen Notenbankchefs Athanasios Orphanides. Die Commerzbank-Experten gehen nicht zuletzt mit Blick auf diese Regel davon aus, dass der EZB-Rat den avisierten Zeitpunkt für eine erste Zinserhöhung um ein halbes Jahr vertagen wird, wie sie in einer aktuellen Analyse schreiben.In einem Ende 2018 veröffentlichten, knapp 100 Seiten starken Arbeitspapier zu den ersten 20 Jahren der EZB kommen die Notenbankexperten um Frank Smets, Berater von EZB-Präsident Mario Draghi, zu dem Schluss, dass die “einfache Regel” von Orphanides die Geldpolitik der EZB “bemerkenswert gut” abbilde. Auch die unkonventionellen Maßnahmen in der Weltfinanz- und Euro-Schuldenkrise würden recht zuverlässig erfasst, wenn man die Wirkung dieser Maßnahmen durch den sogenannten “Schattenzins” approximiere. Der Schattenzins zielt darauf ab, den Expansionsgrad der Geldpolitik zu messen, wenn der Leitzins an der Nullzinsgrenze liegt.Die Orphanides-Regel verknüpft die Änderung des Leitzinses mit Abweichungen der einjährigen Inflationsprognose vom Inflationsziel der EZB und Abweichungen der einjährigen Prognose des realen Wachstums vom Wachstum des Produktionspotenzials. Im Gegensatz zur bekannten Taylor-Regel vermeidet es die Orphanides-Regel, sich auf Dinge wie die Produktionslücke und den natürlichen Realzins zu verlassen, die nicht beobachtbar sind und deren Schätzung mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist. Kein Zinsschritt im Jahr 2019Laut Commerzbank spricht die Orphanides-Regel nun gegen eine rasche Fortsetzung der geldpolitischen Normalisierung. Ende 2018 hatte der EZB-Rat seine breiten Nettoanleihekäufe auslaufen lassen. Basierend auf den Wachstums- und Inflationsprognosen der Commerzbank werde der Orphanides-Zins im Verlauf des Jahres sogar wieder in den negativen Bereich rutschen, heißt es in der Analyse. Das liege an den unbefriedigenden Aussichten für die Inflation, während die Wachstumsprognose noch für eine etwas weniger expansive Geldpolitik spreche. Die Commerzbank rechnet in den kommenden Quartalen wieder mit einer etwas höheren Wachstumsdynamik. Für Commerzbank-Volkswirt Michael Schubert jedenfalls ist auch dank der Orphanides-Regeln ganz klar: Die EZB wird dieses Jahr die Leitzinsen nicht mehr anheben.