LEITARTIKEL

Lieferkettengefetz

Politik ist immer auch Symbolik. Insofern hätte es für einen Durchbruch beim wohl umstrittensten Vorhaben der großen Koalition keinen passenderen Anlass gegeben als den Welttag für menschenwürdige Arbeit vorigen Mittwoch. Doch auch der ist...

Lieferkettengefetz

Politik ist immer auch Symbolik. Insofern hätte es für einen Durchbruch beim wohl umstrittensten Vorhaben der großen Koalition keinen passenderen Anlass gegeben als den Welttag für menschenwürdige Arbeit vorigen Mittwoch. Doch auch der ist verstrichen, ohne dass sich das Bundeskabinett mit den überfälligen Eckpunkten für das geplante Lieferkettengesetz beschäftigen konnte. Denn die federführenden Ministerien – Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) auf Seiten der Drängler, Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CSU) auf Seiten der Bremser – können sich partout nicht einigen. Das Zittern in den Chefetagen von Mittelständlern und Konzernen, ob sie bald haften müssen, wenn Geschäftspartner im Ausland gegen Menschenrechte verstoßen, geht weiter.Es ist Zeit für ein Bekenntnis von Union und SPD: Eine Pflicht zu menschenrechtlicher Sorgfalt in den Lieferketten wird kommen – aber nicht im Alleingang und nicht vor der Bundestagswahl 2021, sondern in Form einer vernünftigen europäischen Lösung. Das hätte etliche Vorteile: Die zunehmend hysterisch geführte Debatte würde versachlicht, ein Flickenteppich in der EU verhindert, der Coronakrise angemessen Rechnung getragen und Klagen der Wirtschaft über einen vermeintlichen Verlust von Wettbewerbsfähigkeit Wind aus den Segeln genommen.Die politische Auseinandersetzung ist emotional so aufgeladen wie bei keinem anderen Vorhaben, Vorwürfe der Kungelei zwischen Altmaiers Ministerialen und Wirtschaftslobbyisten inklusive. Die Regierung trägt eine Mitschuld, griff doch Entwicklungsminister Müller entrüstete Unternehmer mit der Behauptung an, diese hätten einen “Großteil unseres Wohlstands” auf dem Rücken von Mensch und Natur erwirtschaftet. Solche Pauschalkritik ist nicht nur hart an der Grenze zu populistischer Polemik, sie verkennt auch in grotesker Weise die Realität: Internationale Arbeitsteilung hat nicht nur die deutsche Wirtschaft prosperieren lassen, sie hat in vielen Regionen der Welt Wohlstandsgewinne und Lohnzuwächse in einem Maße ermöglicht, das ohne eine globalisierte Weltwirtschaft nicht zu realisieren gewesen wäre.Das heißt nicht, dass Milliardenkonzerne über soziale Missstände hinwegsehen dürfen, die mitunter fürchterliche Folgen haben. Tragödien wie die mehr als 250 Toten beim Brand einer Textilfabrik in Pakistan, wo deutsche Hersteller günstig nähen ließen und sich nicht um Arbeitsschutz scherten, sind nur die offensichtlichsten Belege für die Notwendigkeit, global tätige Firmen in die Verantwortung zu nehmen. Umfragen von Bundesregierung und EU-Kommission, so methodisch angreifbar sie mitunter sein mögen, belegen, dass es mit freiwilliger Selbstverpflichtung nicht getan ist.Statt eines Alleingangs sollte es nun aber um eine europaweit einheitliche Regelung gehen. Die Arbeiten in Brüssel laufen längst. So lassen sich Widersprüche mit nationalen Regeln von vornherein verhindern und Lehren einbeziehen etwa aus Frankreich, wo schwammig formulierte Sorgfaltspflichten Unternehmer verzweifeln und Juristen brüten lassen. Die Gelegenheit ist günstig, hat doch die Bundesregierung aktuell die EU-Ratspräsidentschaft inne. Die Berliner Suche nach einem ausgewogenen Kompromiss sollte daher weitergehen – mit dem Ziel, im November EU-Kommission und EU-Parlament Leitlinien an die Hand zu geben. So ließe sich der absehbare Vorwurf, die Regierung nutze die Coronakrise als Ausrede, um ein missliebiges Thema auf die lange Bank zu schieben, leicht entkräften. Im Übrigen könnte gerade die Union so auf elegante Weise ein Hindernis für ein schwarz-grünes Bündnis aus dem Weg räumen, denn die Grünen fordern noch weitergehende Sorgfaltspflichten.Ein Übriges tut die aktuelle Lage mit einer Pandemie, die Union und SPD beim Ausbuchstabieren des Koalitionsvertrages nicht erahnen konnten. Angesichts des beispiellosen Ausmaßes der anhaltenden Krise mit wieder zunehmenden Gesundheits- und Geschäftsrisiken ist es nur verantwortungsvoll, wenn die Bundesregierung zusätzliche Belastungen zurückstellt, statt weitere Unsicherheit zu säen – so begrüßenswert und notwendig ihr Ansinnen ist.Die Industrie darf sich nichts vormachen: An einer größeren Verantwortung für ihre Lieferketten führt kein Weg vorbei. Die wird es nicht zum Nulltarif geben. Zugleich werden neue Technologien wie die Blockchain helfen, effizient mehr Transparenz zu schaffen. Besinnt sich die große Koalition jetzt auf den richtigen – den europäischen – Weg, zieht auch das stichhaltige Argument der Wirtschaft, Sorgfaltspflichten untergrüben ihre Wettbewerbsfähigkeit, nicht mehr. ——Von Stefan RecciusDer Streit über Sorgfaltspflichten für Unternehmen wird immer unversöhnlicher. Zeit für ein Eingeständnis: Eine vernünftige europäische Lösung muss her.——