1 JAHR LAGARDE ALS EZB-PRÄSIDENTIN

Lob, Kritik, Mahnung - Top-Ökonomen über Lagarde

Umfrage der Börsen-Zeitung: Viel Anerkennung für Corona-Krisenmanagement und Strategieüberprüfung, aber Sorge um Exit und Unabhängigkeit der EZB

Lob, Kritik, Mahnung - Top-Ökonomen über Lagarde

Am 1. November ist Christine Lagarde ein Jahr Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB). Es war ein sehr bewegtes Jahr, geprägt durch die Corona-Pandemie und die dadurch ausgelöste Jahrhundertrezession, aber zunehmend auch durch die von ihr angestoßene Strategieüberprüfung. Eine erste Bilanz. Von Mark Schrörs, FrankfurtDie Berufung von Christine Lagarde zur Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) war eine große Überraschung. Sie ist die Erste an der EZB-Spitze, die nicht aus dem Kreis der Notenbanker im EZB-Rat stammt und die keine volkswirtschaftliche Ausbildung hat. Wie hat sie sich im ersten Jahr geschlagen? Die Börsen-Zeitung hat führende Volkswirte und Geldpolitikexperten befragt: Clemens Fuest, Präsident Ifo-Institut:”Wie erwartet setzt Christine Lagarde im Wesentlichen die Geldpolitik fort, die schon unter der Präsidentschaft von Mario Draghi verfolgt wurde. Sie hat durchaus gezeigt, dass sie weiß, dass die EZB ein beschränktes Mandat hat. Das zeigt ihr umstrittener Hinweis darauf, dass die EZB nicht die Aufgabe hat, Risikoprämien bei Staatsanleihen einzelner hoch verschuldeter Mitgliedstaaten niedrig zu halten. Im Bereich der grünen Geldpolitik entsteht aber der Eindruck, dass sie bereit ist, das Mandat der Geldpolitik weit zu dehnen. Mit der Corona-Pandemie musste Lagarde sich schon kurz nach ihrem Amtsantritt einer großen Krise stellen. Damit geht sie so souverän um, wie man es angesichts ihrer politischen Erfahrung von ihr erwartet. Die großen Herausforderungen könnten aber noch kommen, wenn es gilt, den Ausstieg aus der extrem expansiven Geldpolitik zu finden.” Lorenzo Bini Smaghi, Ex-EZB-Direktoriumsmitglied und Chairman Société Générale:”Während ihres ersten Jahres hat Christine Lagarde bewiesen, dass sie über die Qualitäten verfügt, die für die Führung der EZB erforderlich sind. Obwohl sie keine Erfahrung in der Führung einer Zentralbank hatte, hat sie schnell gelernt und gleichzeitig Bescheidenheit und Intelligenz gezeigt. Als sie Mitte März begriff, dass die anfänglichen Maßnahmen möglicherweise nicht ausreichen würden, um der sich verschlechternden Situation zu begegnen, verdoppelte sie den Einsatz nach einigen Tagen und gewann so das Vertrauen der Märkte zurück. Es ist ihr auch gelungen, die Kollegialität des Entscheidungsprozesses zu wahren, auch weil die Fakten die bisherigen Entscheidungen der EZB als richtig bestätigt haben.” Lena Komileva, Chefökonomin G+ Economics:”Dies ist die richtige EZB-Präsidentin für unsere Zeit. Die Tatsache, dass die EZB in diesem außergewöhnlichen Jahr die richtigen politischen Maßnahmen zur richtigen Zeit ergriffen hat, um eine Eskalation der Gesundheitskrise zu einer Finanzkrise zu verhindern, spricht für sich. In einer Zeit, in der Europa vor den beispiellosen Herausforderungen einer Pandemie, der Deglobalisierung, des Populismus, einer chronisch niedrigen Inflation und einer Rekordkontraktion der Wirtschaft steht, muss die politische Führung eine Gemeinschaftsanstrengung sein, keine Einpersonen- oder Einemissionsanstrengung. Dies erfordert eine Vision der strategischen Bedürfnisse Europas als Union sowie Autorität unter den politischen Führern Europas, stoische Beharrlichkeit und die Fähigkeit, Menschen unterschiedlicher Überzeugungen zusammenzubringen – all dies sind die Fähigkeiten von Präsidentin Lagarde. Nur dann können die begrenzten Instrumente der EZB in die richtigen wirtschaftlichen Ergebnisse umgesetzt werden, auch wenn die bisweilen problematische Kommunikation der Präsidentin mit den Märkten zeigt, dass sie sich noch besser beraten lassen kann.” Jürgen Stark, Ex-EZB-Chefvolkswirt:”Das war ein charmanter, aber holpriger Start. Christine Lagarde kommunizierte zunächst das Richtige, um sich dann zu korrigieren und anders zu entscheiden. Die Corona-Pandemie erforderte zweifelsohne rasches Handeln, um einen Liquiditätscrunch zu vermeiden. Der Fokus richtete sich dann aber eindeutig und verstärkt auf die Finanzierungsbedingungen und Solvenz einiger Mitgliedstaaten. Höhere Länderrisikoprämien infolge rasant steigender Staatsverschuldung wurden als Indikatoren der ,Fragmentierung` der Anleihemärkte gewertet, der man durch Risiko- und Zinsnivellierung entgegenwirkt. Die EZB betreibt nun offen verbotene monetäre Staatsfinanzierung. Die Flexibilität in jeder Hinsicht ist eine neue Dimension der Beliebigkeit der Politik, die einen Ausstieg noch komplizierter macht, sofern er denn gewollt sein sollte. Das ist die Steigerung der Draghi-Politik, wenn auch in einem intern entspannteren Klima. Auch die Überprüfung der EZB-Strategie verspricht nichts Gutes. Lagarde und viele Mitstreiter im EZB-Rat verstehen die Zentralbank als einen breit aufgestellten politischen Akteur mit einem weiten Auftrag, der unter anderem Klimaschutz, Ungleichheit und Genderfragen mit umfassen soll. Dafür fehlt der EZB aber jegliche demokratische Legitimation und sie wertet ihren Kernauftrag ab. Die übersteigerten Erwartungen in eine solche Politik können nur zu Enttäuschungen führen und das Vertrauen in die EZB beschädigen.” Lucrezia Reichlin, Wirtschaftsprofessorin London Business School:”Nach anfänglichem Zögern hat Lagarde die Lektion gelernt. Die Reaktion auf die Pandemie war sehr wirksam und rechtzeitig, und Lagarde hat mit einer starken Stimme in Europa auf eine europäische Reaktion gedrängt. Sie scheint im Gegensatz zu Draghi auf Konsens zu setzen, aber das hat auch Kosten. Die Probe aufs Exempel steht an, wenn sich die Situation weiter verschlechtert und die EZB zu einem noch aggressiveren Vorgehen gezwungen ist.” David Folkerts-Landau, Chefvolkswirt Deutsche Bank:”In der Coronakrise ist es noch schwieriger geworden, die Geldpolitik zu normalisieren. Dabei gilt es das aktuelle monetäre Dogma, das zu immer negativeren Zinsen und immer umfangreicheren Anleihekäufen der Notenbanken geführt hat, unvoreingenommen auf den Prüfstand zu stellen. Christine Lagarde hat angedeutet, dass sie den nötigen Mut dazu besitzt. Weil die Zentralbank nur noch sehr begrenzten Spielraum hat, müssen nun auch die übrigen EU-Institutionen und die Regierungen der Mitgliedstaaten ihren Teil beitragen. Mit ihrem politischen Gespür ist Lagarde prädestiniert dafür, die anderen Akteure in die richtige Richtung zu drängen. Dabei bleibt aber zu hoffen, dass sie der Versuchung widersteht, das Mandat der EZB in Bereiche auszudehnen, die nicht Sache der Geldpolitik sind. Es ist und bliebt das Ziel einer Zentralbank, für Preisstabilität zu sorgen – ihre Glaubwürdigkeit auf diesem Feld ist ihr höchstes Gut. Das sollte sie nicht aufs Spiel setzen, indem sie sich in immer mehr andere Themen einmischt. So ist beispielsweise der Klimaschutz zweifellos ein wichtiges Ziel – aber nicht Aufgabe der Zentralbank.” Marcel Fratzscher, Präsident DIW:”Christine Lagarde hat vor einem Jahr einen der schwierigsten Jobs in Europa übernommen und hat ihre Aufgabe bisher hervorragend erfüllt. Die Corona-Pandemie hat die EZB fast sofort in ihrer Amtszeit vor eine der größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte gestellt. Die EZB hat mit ihren PEPP- und Liquiditätsprogrammen schnell und außerordentlich erfolgreich gehandelt. Das Finanzsystem ist bisher sicher, die Kreditbedingungen gut und die Unsicherheit ist in den Finanzmärkten begrenzt geblieben. Zudem hat die EZB unter Christine Lagarde wichtige Reformprozesse angestoßen – zur Strategie und auch zur Rolle der EZB in Bezug auf den Klimaschutz. Es ist ihr gelungen, die Kommunikation zu verbessern, die Institution zu öffnen und die unterschiedlichen Meinungen der 25 Mitglieder produktiv zu kanalisieren. Dieses erste Jahr sollte uns optimistisch stimmen, dass die EZB und Lagarde die neuen Herausforderungen genauso gut wie im vergangenen Jahr meistern werden.” Thomas Mayer, Gründungsdirektor Flossbach von Storch Research Institute:”Frau Lagarde hat gezeigt, dass sie keine gelernte Volkswirtin ist. Das muss in ihrem Amt kein Nachteil sein. Sie ist von Hause aus Juristin und Politikerin. Auch das muss kein Nachteil sein. Aber sie ist eine Juristin, die schon während der Euro-Krise wenig Respekt für die europäischen Verträge gezeigt hat, und eine Politikerin, die sich nicht scheut, die Europäische Zentralbank zum Instrument für über die Geldwertstabilität hinausgehende politische Ziele zu machen. Vermutlich wäre sie eine gute Präsidentin für die Europäische Kommission, aber als Präsidentin der EZB ist sie eine Fehlbesetzung.” – Elga Bartsch, Leiterin globales Volkswirtschafts- und Kapitalmarktresearch BlackRock:”Das erste Jahr der Amtszeit von Christine Lagarde war durch die Coronakrise von ungewöhnlich großen Herausforderungen geprägt. Insgesamt hat sie die EZB bislang gut durch diese schwierige Phase manövriert. Richtig war es, früh darauf hinzuweisen, dass die Fiskalpolitik eine wichtigere Rolle spielen muss. Positiv zu bewerten ist auch die Entscheidung, eine umfassende Überprüfung der Geldpolitik der EZB zu veranlassen, die in der Breite ihrer Themen über die bereits abgeschlossene Überarbeitung in der US-Notenbank hinausgeht. Ebenfalls positiv sehe ich, dass sich Frau Lagarde um einen kollegialen Führungsstil bemüht, dass sie interne Diskussionen im Rat öffentlichen Äußerungen voranstellt, und dass sie Mitgliedern des Direktoriums mehr Raum in der Außendarstellung der EZB gibt.” – Ricardo Reis, Wirtschaftsprofessor London School of Economics:”Die EZB hat sich in der Krise sehr gut geschlagen: Sie hat die europäischen Finanzmärkte funktionsfähig und widerstandsfähig gehalten, sie hat den Mitgliedstaaten geholfen, große Summen ohne nennenswerte Störungen an den Anleihemärkten aufzunehmen, und sie hat in den Diskussionen, die zum Finanzpaket des Europäischen Rates führten, fundierte wirtschaftliche Ratschläge gegeben. Mit Blick auf die Zukunft dürfte eine der größten Herausforderungen darin bestehen, sich wieder auf die Preisstabilität zu konzentrieren. Das Hauptziel der EZB wird unter Druck geraten, da die Rezession, die Explosion der Staatsverschuldung und Verschiebungen in der Struktur unserer Wirtschaft die Inflation sowohl nach oben als auch nach unten drücken werden.” Sylvain Broyer, Europa-Chefvolkswirt S&P Global Ratings:”Zu ihrem Amtsantritt bei der EZB hatte sich Lagarde selbst als ,Eule` vorgestellt – sie wolle weder geldpolitischer ,Falke` noch ,Taube` sein. Bei Eulen sind ja Sehvermögen und Gehör exzellent ausgeprägt – und dies zeichnet auch das erste Jahr ihrer Präsidentschaft aus. Sie hat in einer äußerst ungewissen und undurchsichtigen Umgebung einen sehr guten Job gemacht. Die Maßnahmen der EZB zur Bekämpfung der Coronafolgen kamen schnell und zeigten sich wirksam. Stärker als ihr Vorgänger Draghi bringt sie sich auch bei fiskalpolitischen Themen in Stellung. Und um bei der Eule zu bleiben: Gerade mit Blick auf den kürzlich begonnenen Strategy Review wird das Zuhören besonders wichtig. Denn dieser wird eine Chance sein, auch Altbewährtes wie etwa das Inflation Targeting, zu hinterfragen. Lagarde wird dabei die richtige Flughöhe wählen.” – Konstantin Veit, Leitender Portfoliomanager Pimco:”Nach dem eher missverständlichen Auftritt am 12. März, als Präsidentin Lagarde die Märkte kurzfristig an der Bereitschaft der Zentralbank zweifeln ließ, Peripherieländer in schweren Krisenzeiten zu unterstützen, hat sich die EZB gefangen und schnell notwendige geldpolitische Maßnahmen ergriffen, um der Pandemie entschlossen die Stirn zu bieten. Präsidentin Lagarde zeigt auch große Dynamik bei wichtigen Themen wie Digitalisierung und Klimawandel und ist insgesamt bestrebt, die Zentralbank volksnah aufzustellen. Es ist allerdings nicht eindeutig unproblematisch, wenn EZB-Direktoriumsmitglieder gleichzeitig auch als Politiker wahrgenommen werden können. In der aktuellen Situation besteht die Hauptaufgabe einer Zentralbank in der Unterstützung der Fiskalpolitik. Dass sich diese Erkenntnis innerhalb der EZB recht schnell durchgesetzt hat, ist nicht selbstverständlich angesichts der institutionellen Konfiguration und sicherlich ein Verdienst von Präsidentin Lagarde.” – James Nixon, Europa-Chefvolkswirt Oxford Economics:”Obwohl sie sich sehr schnell mit der Abschwächung auseinandergesetzt hat, denke ich, dass Lagardes Erfolge eher politischer als wirtschaftlicher Natur waren. Es besteht kein Zweifel, dass die Eurozone in Draghi ihren Retter gefunden hatte: Er war in der Lage, die zur Rettung der Eurozone erforderlichen Instrumente zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Aber Europa muss sich weiterentwickeln, es gilt den politischen Konsens über die politischen Interventionen der EZB wiederherzustellen und alle zu überzeugen, dass die Zentralbank eine Rolle bei der Finanzierung des Übergangs zu sauberen Energien zu spielen hat. Lagarde scheint über die notwendigen zwischenmenschlichen Fähigkeiten zu verfügen, um diese Aufgabe zu übernehmen.” Stefan Gerlach, Ex-Vizepräsident der irischen Zentralbank und Chefvolkswirt EFG Bank:”Abgesehen von einem anfänglichen Kommunikationsproblem in Bezug auf die EZB und die Spreads von Anleihen, von dem böse Zungen behaupten werden, es spiegele ihre mangelnde Erfahrung als Zentralbankerin wider, hat Frau Lagarde eine sehr gute Krise hinter sich. Die Reaktionen der EZB auf die Pandemie waren viel schneller und stärker als ihre ,Zu wenig und zu spät’-Reaktionen während der globalen Finanzkrise und der Staatsschuldenkrise. Natürlich hat ihr geholfen, dass sie ein ,Textbuch` hatte, auf das sie zurückgreifen konnte, und dass sie im Direktorium über viel wirtschaftliches Fachwissen verfügte. Der wirkliche Test wird kommen, wenn sich der Euroraum erholt. In den Diskussionen wird es um technische geldpolitische Urteile gehen, mit denen sie sich womöglich schwerer tun wird.” – Friedrich Heinemann, Leitender Ökonom ZEW:”Christine Lagardes größte Stärke ist vielleicht auch ihre größte Schwäche. Sie ist als erfahrene Politikerin angetreten, um die EZB-Geldpolitik der Öffentlichkeit besser zu erklären. Da machen sie und ihr Team mit Philip Lane und Isabel Schnabel tatsächlich einen exzellenten Job. Jetzt besteht aber der Eindruck, dass zunehmend die Politikerin mit ihr durchgeht und sie neben Geldpolitik auch Klima- und Sozialpolitik in Europa machen will. Wenn sie hier weiter so offensiv ist, läuft das auf eine Grenzüberschreitung des geldpolitischen Mandats hinaus – und gefährdet in letzter Konsequenz die EZB-Unabhängigkeit.”