„Lohnzurückhaltung löst das Problem nicht"
Im Interview: Jürgen Kerner
„Lohnzurückhaltung löst das Problem nicht“
IG Metall-Vorstand fordert Metall- und Elektroindustrie zu mehr Investitionen in Technologie auf – Modernisierung ist essenziell für unseren Standort
Die laufenden Tarifverhandlungen in der deutschen Metall- und Elektroindustrie fallen in eine schwierige Zeit. Die Automobilindustrie aber auch der Maschinenbau kämpfen mit einer anhaltend schwachen Nachfrage, Tausende von Arbeitsplätzen stehen auf der Kippe. IG Metall-Vorstand Jürgen Kerner hält den Griff zum Rotstift jedoch für kurzsichtig. Unternehmen sollten dem Strukturwandel mit mehr Investitionen in neue Technologien begegnen. Hierfür brauche es auch Hilfe aus der Politik.
Herr Kerner, die Auftragslage im deutschen Maschinen- und Anlagenbau, dem wichtigsten industriellen Arbeitgeber in Deutschland, ist schlecht – und das auch nicht erst seit kurzer Zeit. Wie würden Sie die Stimmungslage unter den Beschäftigten beschreiben?
Die Stimmungslage unter den Beschäftigten ist sehr angespannt. Wir hatten hohe Auftragsbestände nach der Corona-Zeit, da es viel aufzuholen gab. Jetzt laufen wir schon seit Längerem in eine Unterauslastung. Bislang waren diese Dellen immer sehr kurz, weil es wegen des hohen Exportanteils in der Branche immer irgendwo kompensierende Entwicklungen gab. Doch der konstante Rückgang über alle Teilbranchen hinweg ist nun doch sehr ungewöhnlich und verunsichert die Kollegen.
An der IG Metall ist noch nie ein Unternhmen kaputt gegangen.
Die anstehenden Tarifverhandlungen dürften vor diesem Hintergrund wegen der hohen Lohnforderungen schwierig werden. Oder sind Sie da ganz zuversichtlich? In der Öffentlichkeit dürfte das jedenfalls schwer vermittelbar sein.
Ich glaube nicht, dass „die Öffentlichkeit“ hier eine einheitliche Haltung hat. Breite Schichten erleben selbst, dass es finanziell enger wird und haben darum Verständnis für unsere Forderung. Was die Lage in den Unternehmen angeht, so haben wir in den vergangenen Jahren als Gewerkschaften immer sehr verantwortungsvoll agiert. Denken Sie an die Inflationsausgleichsprämie, mit der wir nur einmalig Spitzen weggenommen haben. Aber inzwischen weiß jeder, dass die Preise dauerhaft hoch bleiben. Und hier müssen die Löhne nachziehen. Darum halten wir eine Forderung von 7% für passend und vernünftig. Zumal der Lohnkostenanteil im Maschinenbau mit rund 16% nicht die entscheidende Größenordnung ist. Der Einfluss der Energiekosten und vieler anderer Faktoren ist schon auch sehr groß.
Jetzt schüren Sie aber auch die Erwartungshaltung der Beschäftigten. Wie kommen Sie da wieder runter?
Die Beschäftigten haben die Einmalzahlungen akzeptiert, obwohl schon damals auch der Ruf nach einer allgemeinen Entgelterhöhung groß war. Und da die Preise inzwischen dauerhaft hoch sind, benötigen wir eben auch ein allgemein höheres Lohnniveau. Natürlich berücksichtigen wir dabei auch immer die Lage von einzelnen Unternehmen im Sinne des Pforzheimer Abkommens. Mit der Möglichkeit, vom Flächentarif in bestimmten Situationen abzuweichen, hat die IG Metall immer bewiesen, dass sie verantwortlich handelt. An der IG Metall ist noch nie ein Unternehmen kaputt gegangen. Denn auch wir haben ein hohes Interesse, dass der Maschinenbau als Beschäftigungsmotor stabil läuft. Aber mit Lohnzurückhaltung würden wir das Problem nicht lösen.
Allein mit Lohnzurückhaltung würden wir das Problem nicht lösen.
Die Wettbewerbsposition deutscher Unternehmen ist derzeit eher schlecht. Inwieweit begreifen sie hohe Lohnforderungen auch als Produktivitätspeitsche, wie es früher hieß? Denn hohe Löhne erhöhen auch den Druck zur Automatisierung, den Einsatz von Robotern und KI.
Unsere guten Entgelte in Deutschland lassen sich natürlich auf Dauer nur darstellen, wenn wir hochproduktive und hochinnovative Unternehmen haben. Dass die deutsche Industrie so produktiv ist, hat elementar auch etwas damit zu tun, dass die Gewerkschaften den Lohndruck hochgehalten haben. Und ja, wir müssen auch Technologie noch weitertreiben. Die IG Metall hat sich noch nie gegen den Einsatz von Robotern in der Fertigung oder gegen KI gesperrt. Gerade im Maschinenbau brauchen wir eine technologische Renaissance, weil die Modernisierung nach Corona etwas stockt, während sich die Unternehmen etwa in China durchaus modernisiert haben.
Wir wollen im Schulterschluss mit der Branche und der Politik dafür sorgen, dass die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt werden.
Wo machen Sie das fest?
In China gibt es immer mehr Eröffnungen neuer Fabriken, die jetzt zu 100% mit chinesischen Maschinen ausgestattet sind. Früher sind die Werke traditionell auch mit deutschen Fabrikaten ausgerüstet worden. Eine Modernisierung ist insofern essentiell für unseren Standort. Forschung, Entwicklung und Nachhaltigkeit müssen wieder das Ziel im deutschen Maschinenbau werden. Hier wollen wir im Schulterschluss mit der Branche und der Politik dafür sorgen, dass die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt werden.
Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall mahnt, dass es neben der hohen Innovationskraft auch die „enorme Leistungsbereitschaft“ war, die die deutsche Industrie stark gemacht hat. Darauf müssten sich alle wieder besinnen. Fehlt es denn am Leistungswillen in der Branche?
Nein, nein. In der Klage der Arbeitgeber offenbart sich eine Haltung, die wir eigentlich als überwunden gehalten haben. Als ob mit mehr Arbeitsstunden und mehr Flexibilität der Beschäftigten allein die Unternehmen wieder erfolgreich werden könnten. Tatsächlich sammeln unsere Beschäftigten Millionen von Überstunden an. Es gibt in der Branche fast keinen Beschäftigten, der starr und unflexibel 35 Stunden in der Woche arbeitet. Wir sind hoch flexibel – zum Beispiel mit Arbeitszeitkonten im gewerblichen Bereich. Und selbst im Büro und anderen Bereichen haben die Leute Gleitzeit. In Amerika, dem gelobten Land, gibt es in der Regel keine Arbeitszeitkonten.
Die von den Arbeitgebern geforderte Flexibilität ist also längst gegeben?
Ja, absolut. Sowohl in der Großindustrie als auch im Mittelstand gibt es viele flexible Lösungen, weil sehr auftragsbezogen gearbeitet wird. Wir sind flexibler als es der Verband Gesamtmetall darstellt. Die wollen gerade offenbar eine Gegenposition zu unserer Tarifforderung aufbauen. Auch die Klage über junge Menschen, die nicht mehr so leistungsbereit sein sollen, finde ich anmaßend. Das Engagement der Mitarbeiter ist nach wie vor über alle Altersklassen hinweg da. Es sind andere Stellschrauben, an denen gedreht werden muss.
Wir müssen uns schnellstmöglich wieder an die Spitze setzen als Technologie- und Innovationstreiber.
Wo genau?
Wir waren mal der Ausrüster der Welt mit starker Automobilbasis in Deutschland. Jetzt merken wir, dass andere Länder wie China versuchen, diese Position einzunehmen. Wir müssen hier schnellstmöglich aufs Gaspedal treten und uns wieder an die Spitze setzen als Technologie- und Innovationstreiber. Voraussetzung ist, dass sich zunächst einmal die Verunsicherung legt. Und dazu gehört aus meiner Sicht eine verantwortungsvolle Tarifrunde, und mehr Investitionen zur Modernisierung. Der Maschinenbau muss mit neuen Technologien fit für die nächsten 5 bis 10 Jahre werden.
Wie groß ist die Gefahr einer Deindustrialisierung in Deutschland?
Über die Jahre hat es schon einen schleichenden Rückgang der Industrieproduktion gegeben. Zwar liegen wir vom Niveau her immer noch weit über vergleichbaren Ländern wie Frankreich, England oder den USA. Wir müssen aber dafür sorgen, dass der hohe Industrieanteil nicht unter ein kritisches Maß rutscht. Denn gut bezahlte Jobs in dieser Branche sind wichtig auch für die Stabilität unserer Demokratie. Entscheidend ist, dass das industrielle Ökosystem in den Branchen erhalten bleibt, sonst ist der Rutsch nicht mehr aufzuhalten.
Wo ist hier der Kipppunkt?
Der Maschinenbau ist natürlich davon abhängig, wie sich die Automobilindustrie in Deutschland entwickelt. Und was die anderen Branchen angeht, so sollte die Bundesregierung etwa bei der subventionierten Ansiedlung von Halbleiterwerken oder Batteriefabriken natürlich auch dafür sorgen, dass der deutsche Maschinenbau bei der Ausstattung ebenfalls davon profitiert. Sonst kriegen wir eine chinesische Fertigung mit chinesischen Maschinen.
Wir müssen beweisen, dass Digitalisierung, KI und Klimaschutz kein Widerspruch sind zur Industrie.
Dann müssen die deutschen Maschinenbauer natürlich konkurrenzfähig sein. Welche Rolle spielen hier die Energiekosten?
Eine ganz große Rolle. Wenn wir zulassen, dass Teile der Industrie keine Perspektive mehr haben, weil die Energiekosten zu hoch sind, ist das gefährlich. Es wäre ein Fehler, jene mit hohem Energiebedarf gehen zu lassen, und jene mit geringem Energiebedarf halten zu wollen, wie manche Ökonomen argumentieren. Die Netzwerke und industriellen Cluster sind die Stärke unseres Industriestandorts. Wir müssen hier beweisen, dass Digitalisierung, KI und Klimaschutz kein Widerspruch sind zur Industrie. Wenn wir jetzt allerdings zwei Jahre weiter politischen Stillstand haben sollten, werden wir weiterhin über alle Branchen hinweg industrielle Arbeitsplätze verlieren. Insofern ist Eile geboten.
Der Fetisch um die Schwarze Null muss aufhören!
Was müsste die Politik – sagen wir – im Herbst schnellstens anpacken, um das Schlimmste zu verhindern?
Zunächst brauchen wir eine Entlastung der energieintensiven Industrie. Ob das der Industriestrompreis ist, der Brückenstrompreis, oder ob wir als erstes die Netzentgelte rausnehmen, ist mir eigentlich egal. Aber dieses Signal muss jetzt kommen. Es muss uns auch gelingen, schnellstmöglich grüne Leitmärkte zu etablieren. Das betrifft grünen Stahl genauso wie Elektroautos oder Elektro-Trucks. Wir müssen das sauber durchdenken, weil nur dann investiert wird und dann haben wir auch wieder Perspektiven für die Maschinenbauer. Und der dritte Punkt: Forschung und Entwicklung muss noch stärker vorangetrieben werden. Ich würde mir hier auch perspektivisch wünschen, dass dieser Fetisch um die schwarze Null aufhört. Jeder vernünftige Politiker in Berlin bestätigt mir, dass wir entweder ein Sondervermögen brauchen oder eine Reform der Schuldenbremse, um die Innovationsfähigkeit nach vorne zu treiben.
Die Arbeitgeber vom VDMA sind gegen einen Industriestrompreis und für eine Ausweitung der Arbeitszeit. Sprechen Sie eigentlich miteinander?
Natürlich gibt es einen Austausch, auch über Verbandsgrenzen hinweg. Wir und der BDI haben ja federführend das Bündnis Zukunft für Industrie geschmiedet. Und hinter dem BDI steht ja zum Beispiel auch wieder der VDMA. Der BDI hat sich auch klar zum Thema Sondervermögen und zu den Energiekosten positioniert. Was den Industriestrompreis angeht, da glaube ich, dass dem VDMA nicht immer bewusst ist, dass wir mit solchen populistischen Aussagen auch Arbeitsplätze, Branchen und Unternehmen verlieren, die wiederum mögliche Auftraggeber für den deutschen Maschinen- und Anlagenbau sein können.
Unternehmen müssen wieder mehr auf eine Vision hinarbeiten. Sich allein auf Margenoptimierung zu konzentrieren ist der falsche Weg.
Ein anderes Problem der Industrie ist ja der Fachkräftemangel. Der wird regelmäßig beklagt, dabei gibt es verstärkt auch wieder Entlassungen. Wie passt das zusammen?
Die im Moment stattfindenden Entlassungen halte ich für absolut kurzsichtig – auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels. Wie soll man junge Menschen in die Industrie locken, wenn die Jobs nicht mehr als sicher gelten? Die Unternehmen fallen aus meiner Sicht wieder in die alten Mechanismen zurück, weil sie den Glauben verlieren, dass ihnen die Umstellung auf neue Geschäftsmodelle in Richtung KI, Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft gelingt. Wenn das aber der Fall ist, verlieren wir bald auch unseren Status als Industrienation. Deshalb rufe ich die Unternehmer auf, wieder mehr auf eine Vision hinzuarbeiten. Die muss greifbar sein, konkret – für das Management, die Mitarbeiter und die Öffentlichkeit. Sich allein auf Margenoptimierung zu konzentrieren, ist der falsche Weg.
Sparpolitik der Unternehmen schreckt also junge Menschen ab?
Ja, auf jeden Fall. Wenn junge Menschen das mitbekommen, orientieren sie sich um und gehen in andere Branchen. Deshalb muss die Industrie schon sich selbst beweisen, dass sie den Strukturwandel hinbekommt – ohne gleich zu Entlassungen zu greifen. Es gibt ja auch die Kurzarbeit. Und wir haben in den Tarifverträgen die Möglichkeit, die Arbeitszeit und damit auch das Entgelt zu reduzieren. Es gibt auch flexible Lösungen wie bei Continental in Niedersachsen, wo man Beschäftigte direkt entweder zu Rheinmetall oder Siemens Mobility vermitteln möchte, ganz ohne komplexe Transfergesellschaften. Es ist auch sehr unglaubwürdig, wenn Arbeitgeber in Sonntagsreden über fehlende Fachkräfte klagen, längere Arbeits- und Lebensarbeitszeiten fordern und dann beim ersten Gegenwind sofort Menschen entlassen.
Was müssen Unternehmen tun, um offene Lehrstellen noch besetzen zu können?
Die Unternehmen müssen sich heute anders präsentieren als früher, wo auf eine Stelle zig Bewerber kamen. Jetzt müssen die Arbeitgeber bei potenziellen Bewerben anklopfen und deutlich machen, was eine Ausbildung bei ihnen attraktiv macht. Der Mangel an Auszubildenden ist auch der Grund, weshalb wir bei den Ausbildungsvergütungen eine deutliche Erhöhung fordern. Die Metall- und Elektroindustrie war mal diesbezüglich Spitzenreiter, inzwischen ist das nicht mehr der Fall. Eines der Erfolgsmodelle ist in diesem Zusammenhang auch das duale Studium, das wir neben der klassischen Ausbildung noch stärker im Mittelstand verankern müssen.
Es gibt ja noch ein anderes Reservoir an möglichen Auszubildenden: Migranten. Warum klappt es nicht, diese zügig in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Wir brauchen schlicht wieder einen funktionierenden Staat, in dem die Bürokratie funktioniert, der aber auch Handlungsfähigkeit in Krisensituationen beweist. Deshalb brauchen wir auch keine stärkeren oder besseren Gesetze, wie jetzt wieder gefordert wird, sondern die bestehenden Gesetze müssen durchgesetzt werden. Das gilt schon beim Thema Anerkennung von Abschlüssen. Ich höre von Ausländerbehörden mit einem Rückstau von Tausenden unbearbeiteten Mails. Da kommen Menschen nicht in Arbeit, einfach weil die Verwaltung nicht funktioniert und weil es an den zentralen Stellen zu wenig Personal gibt. Dabei erfolgt Integration nun mal hauptsächlich über Arbeit, weil sie eine Perspektive gibt. Das ist gerade für junge Geflüchtete entscheidend.
Das gesellschaftliche Klima droht sich in manchen Regionen Deutschlands für Migranten zu verschlechtern – und damit auch die Möglichkeit für die Anwerbung der benötigten Fachkräfte. Wie kann man hier politisch gegensteuern?
Migration und Sicherheit sind nun einmal Themen, die die Menschen umtreiben. Die Politik muss das ernst nehmen und zugleich für Geflüchtete Perspektiven schaffen. Dann wird auch das Feld frei für Themen, die mir noch wichtiger erscheinen: die Zukunft des Industriestandorts. Wir werden als IG Metall im nächsten Jahr alles daransetzen, dass der Bundestagswahlkampf sich mit dieser entscheidenden Zukunftsfrage beschäftigt.
Wir dürfen uns unsere Demokratie von extremen Parteien nicht kaputt machen lassen.
Müssen sich deutsche Unternehmenslenker in der Migrationsdebatte noch stärker positionieren? Immerhin geht es hier auch um die Besetzung von Vakanzen auf dem Arbeitsmarkt.
Ja, ich glaube, dass die Unternehmen bei solchen grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen Position beziehen müssen. Das passiert aber auch schon. In diesem Jahr haben sich nach den großen gesellschaftlichen Demonstrationen sehr viele Unternehmen – große wie kleine – so klar positioniert wie nie zuvor. Das halte ich für sehr positiv, denn natürlich dürfen wir uns unsere Demokratie, die wir haben, bei allen Mängeln, die sie aufweist, von extremen Parteien nicht kaputt machen lassen.
Das Interview führten Karolin Rothbart und Stephan Lorz.