Lucky Leak
Der Ressortleiter Wirtschaft der Regionalzeitung staunte nicht schlecht. Gerade erst vor drei Minuten hatte die Chefredaktion im kleinen Kreis der leitenden Redakteure über den Abbau von 20 Arbeitsplätzen im Haus informiert, da klingelte bereits sein Telefon. Es war der Kollege des Nachrichtenmagazins, der nur eben kurz nachfragen wollte, “wie viele der 20 Jobs denn letztlich auf die Wirtschaft entfallen”. Tja, Informationslecks gibt es eben nicht nur in Konzernen und Ministerien, sondern auch in Verlagen und Zeitungsredaktionen. *Früher verliefen diese Durchsteckereien von vertraulichen Informationen – auf Neudeutsch besser bekannt als Leaks – meist recht unsystematisch. Sie waren sogar oft eher fahrlässig als geplant. Legendär ist etwa, dass die Deutsche Presseagentur wiederholt bei Tarifverhandlungen detailliert über den Stand der Diskussion berichten konnte, weil ein pfiffiger Kollege während der Tagungspausen die Papierkörbe leerte und die darin zerknüllten Kompromissangebote auswertete. Die Nachrichtenagentur vwd wiederum landete einst einen bedeutenden Scoop, weil der Pressesprecher eines Dax-Konzerns aus Versehen den Zettel mit den frisch testierten Quartalszahlen in die schriftliche Einladung zur Pressekonferenz miteingepackt hatte.Es gibt unter Journalisten viele solcher Anekdoten über das Glück, zufällig von irgendeinem Informationsleck profitiert zu haben – sozusagen über Lucky Leaks. Es gibt zugleich eine Menge Journalisten, die einen geradezu sportlichen Ehrgeiz entwickelt haben, derlei “Zufälle” zu provozieren. Ein Klassiker ist die fadenscheinige Vorspiegelung, von anderer Seite bereits ein Geheimnis erfahren zu haben (was natürlich nicht stimmt). Das hört sich dann etwa so an: “Sagen Sie, Herr Staatssekretär, die EU-Beamten aus der Generaldirektion Wettbewerb haben uns verraten, dass die Landesbank sich wegen der Beihilfeauflagen bis 2015 von ihrer Immobilientochter trennen muss?” “Das ist ja unglaublich, dass die EU-Beamten das bereits herumposaunen – wobei ich eigentlich verstanden hatte, dass die Frist bis Mitte 2016 laufen soll.” Besten Dank für die Auskunft! *Das ist freilich alles Leak von gestern. Das letzte Mal, dass ich in Brüssel einen Umschlag mit dem Entwurf für eine EU-Richtlinie in irgendeinem Behördenflur heimlich zugesteckt bekommen habe, ist fünf Jahre her. Längst gibt es modernere Wege, um etwas zu leaken – sei es aus Versehen oder absichtsvoll. In die erste Kategorie fällt beispielsweise das berühmte Tischgemurmel zwischen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und seinem damaligen portugiesischen Amtskollegen Vítor Gaspar, in dem er ihm weitere finanzielle Unterstützung zusagte – ohne daran zu denken, dass die Mikrofone der im Raum befindlichen Kameras leistungsstark genug waren, um auch aus mehreren Metern Entfernung Gespräche im Flüsterton abzugreifen. Ein ähnliches Schicksal hat jüngst den britischen Premier David Cameron ereilt, als er der Queen vorschwärmte, zu seiner Antibestechungskonferenz würden sogar Regierungschefs aus “fantastisch korrupten Ländern” wie Nigeria oder Afghanistan anreisen.Die modernen Technologien sorgen indes nicht nur dafür, dass es mehr dieser eher unterhaltenden Offenbarungen auf Youtube gibt. Sie ermöglichen zugleich ganz neue Formen der Enthüllungen wie Luxleaks, die Panama Papers oder die Veröffentlichung der TTIP-Verhandlungspapiere. Bemerkenswerterweise, so berichten Beamte, scheint es oftmals gar nicht so einfach zu sein, diejenigen ausfindig zu machen, die Texte an die Öffentlichkeit durchgestochen haben. Zwar arbeiten die Dienststellen längst mit individuell rückverfolgbaren Kopien, indem etwa vor der Ausgabe an Diplomaten jedes einzelne Exemplar durch unauffällige Fußnoten oder falsche Seitenziffern wiedererkennbar gemacht wird. Das allerdings nutzt nichts, wenn die Texte zum effektiveren Quellenschutz – wie es zum Beispiel Greenpeace jüngst im Falle der TTIP-Leaks getan hat – noch einmal unter Aufsicht zur Schweigepflicht verdonnerter Anwälte komplett abgeschrieben werden.