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Ludwig Erhard und die rote Karte

Börsen-Zeitung, 16.6.2018 Man stelle sich vor, aus Gründen der Freundschaft und Solidarität unter den Fußprofis und der jetzt wieder in den Stadien und vor den Fernsehgeräten versammelten Fußballgemeinde würden bei der eben begonnenen...

Ludwig Erhard und die rote Karte

Man stelle sich vor, aus Gründen der Freundschaft und Solidarität unter den Fußprofis und der jetzt wieder in den Stadien und vor den Fernsehgeräten versammelten Fußballgemeinde würden bei der eben begonnenen Weltmeisterschaft in Russland die Platzverweise abgeschafft. Was wäre die Folge? Vermutlich mehr und härtere Fouls. Nicht von allen Spielern, aber von einigen. Und unschöne Szenen unter den Fans. Ohne rote Karten würden auch die gelben Karten ihre Wirkung verlieren, und Instrumente wie den Videobeweis könnte man sich wohl ebenfalls schenken. Deshalb käme ernsthaft niemand auf die Idee, die rote Karte beim Fußballspiel abzuschaffen. Die rote Karte verkörpert das Haftungsprinzip: Wer foult, muss dafür geradestehen. Das HaftungsprinzipHaftung, also die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns, ist ein Prinzip, das nicht nur beim Fußball, sondern grundsätzlich in jeder Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Ohne das Haftungsprinzip können Marktwirtschaften und Demokratien auf Dauer nicht funktionieren. Denn erst Haftung und Eigenverantwortung ermöglichen Freiheit; und zwar Freiheit, die nicht zur Freiheitseinschränkung anderer führt. Diese Grundsätze sind zentral für die Funktionsweise und den Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft seit sieben Jahrzehnten. Dies mit Blick auf die Herausforderungen der Tagespolitik in Deutschland und Europa zu diskutieren wäre anlässlich des 70-jährigen Bestehens der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland angemessen gewesen. Stattdessen gab es beim Festakt am Freitag in Berlin Plattitüden über die Soziale Marktwirtschaft als “das Fundament des wirtschaftlichen Erfolgs unseres Landes” (Bundeskanzlerin Angela Merkel). Den Markt ausgeschaltetSeit Jahren schon werden national und EU-weit die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft, insbesondere das Haftungsprinzip, ausgehöhlt. In der Währungspolitik, wo mit der Euro- und Staatsschuldenkrise die No-bail-out-Klausel geopfert wurde und Geldpolitik seither auch der Staatsfinanzierung dient; in der Haushaltspolitik, wo die Verletzung der Maastricht-Verschuldungsregeln ohne politische Sanktionen bleibt und der Druck des Marktes in Gestalt höherer Zinsen für schlechtere Schuldner durch die Europäische Zentralbank ausgeschaltet wird; in der Wirtschaftspolitik, wo der europäische Binnenmarkt über die Bankenunion den Weg zur Vergemeinschaftung beispielsweise der Einlagensicherung öffnen soll; in der Arbeitsmarktpolitik, wo nationale Erfolglosigkeit künftig über eine EU-Rückversicherung abgefedert werden soll. Selbst in der aktuell so heftig umstrittenen Asylpolitik hat die Bundesregierung seit 2015 die Vereinbarungen und das Haftungsprinzip aufgegeben und lässt Schutzsuchende ins Land, die bereits in einem anderen EU-Land oder einem sicheren Drittstaat registriert sind. Solange Deutschland diese Praxis beibehält, gibt es für unsere EU-Nachbarländer keinen Grund, über eine Neuregelung der gemeinsamen europäischen Asylpolitik zu verhandeln. Hand in Hand mit der Aufgabe des Haftungsprinzips geht seit Jahren die Vernachlässigung eines anderen Grundsatzes der Sozialen Marktwirtschaft, nämlich des Subsidiaritätsprinzips. Immer mehr Kompetenzen regionaler oder nationaler Institutionen werden mit dem fadenscheinigen Vorwand der Harmonisierung, Vereinfachung und Angleichung der Lebensverhältnisse auf europäische Behörden verlagert und damit demokratisch legitimierter Kontrolle entzogen. Vor allem: Der Wettbewerb um die beste bürokratische Lösung und das beste politische Angebot wird ausgeschaltet. Bequem für die Politiker und die Administration, von Nachteil für die Freiheit der Bürger. Erhards Vorstellung von Sozialer Marktwirtschaft entspricht es nicht: “Ich selbst bin zum Beispiel davon überzeugt, dass im wirtschaftlichen Leben der echte, nicht manipulierte Wettbewerb das beste und auch wohltätigste Ausleseprinzip verkörpert, während andere der Meinung sind, dass um der Gleichheit willen die Lebensmöglichkeiten menschlicher Individuen obrigkeitlich gesteuert werden müssen.” In der EU ohne FansDass Ludwig Erhards marktwirtschaftlicher Entwurf in der EU keine große Fan-Gemeinde hat, muss angesichts der französischen Tradition der Planification und der Durchdringung europäischer Institutionen mit französischen oder zumindest in ihrem Geist gebildeten Experten nicht wundern. Dass aber deutsche Politiker das ökonomisch wie auch sozial und ethisch überlegene Modell der Sozialen Marktwirtschaft auf dem Altar europäischer Gleichmacherei opfern, ist schwer zu ertragen und hat den antieuropäischen Stimmungen hierzulande Vorschub geleistet. Es hat dazu geführt, dass das ursprünglich liberale und marktwirtschaftliche Projekt Europa im Kern zu einer Transferunion verkommen ist, bei der es nur noch um die Frage geht, wer wem mit wie vielen Milliarden im Krisenfall unter die Arme greift, sprich für ihn haftet. Was Europa heute zusammenhält, ist nicht die europäische Idee, sondern die Hoffnung auf finanzielle Transfers und die Furcht vor Bedeutungslosigkeit in einer globalen Welt mit China, USA und Russland als politisch und wirtschaftlich dominierenden Ländern.Was aber ist gewonnen, wenn man dem Protektionismus der USA, Chinas und Russlands ein Europa entgegensetzt, das nur noch als Notgemeinschaft funktioniert? Wie glaubwürdig kann man das Modell der Sozialen Marktwirtschaft international bewerben – wozu sich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier beim Festakt bekannte -, wenn man es selbst nicht mehr lebt? So wünschenswert die von Altmaier propagierte Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft wäre, so wenig erlauben der Koalitionsvertrag und die Agenda der Bundeskanzlerin die Hoffnung, dass davon mehr bleibt als eine Jubiläumsrede. De facto hat die Bundesregierung dem Erbe Ludwig Erhards längst die rote Karte gezeigt. —– c.doering@boersen-zeitung.de—–Von Claus DöringDie Haftung, Grundprinzip der Sozialen Marktwirtschaft, wird in Deutschland und der EU seit Jahren ausgehöhlt und durch Vergemeinschaftung ersetzt.—–