Märchenzeit zur Steuerpolitik
Steuerpolitik ist Standortpolitik. Sie war es zumindest einmal und sollte es auch wieder sein. In Berlin haben die großen Wirtschaftsverbände in einer konzertierten Aktion dazu aufgerufen, die Unternehmenssteuer zu modernisieren und den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken. Eine Dekade nach der bislang letzten großen Steuerreform hierzulande dringt die Wirtschaft aus gutem Grund auf eine Novelle. Andere Industriestaaten haben ihre Steuersysteme überarbeitet und die Last für die Unternehmen gemildert. Deutschland findet sich mit einem Niveau von knapp 32 % im internationalen Vergleich in der Spitze. Der Durchschnitt in der OECD liegt nur bei etwas mehr als 25 %. Der Ruf nach fairen Bedingungen für die deutsche Wirtschaft, die sich im internationalen Wettbewerb behaupten muss, verhallt jedoch unerhört. Zwar hat die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag ein Unternehmenssteuerkonzept entwickelt, und auch der Seeheimer Kreis in der SPD denkt inzwischen laut darüber nach, doch in der Tagespolitik der fragilen großen Koalition bewegt sich allzu wenig. Das Moratorium, keine Steuern zu erhöhen, hat weitgehend zu Reformstillstand geführt. Punktuelle Vorhaben der großen Koalition stecken derzeit fest. Das Jahressteuergesetz gehört dazu. Eine der Ursachen ist ein Wandel der Betrachtungsweise. Steuerpolitik wird auf eine ideologische Gerechtigkeitsfrage reduziert. Dafür müssen sogar Märchenstunden herhalten: Steuerschlupflöcher werden darin immer größer, gute Investoren zu bösen Spekulanten gemacht.Das Bundesfinanzministerium und die Länder haben sich jahrelang mit sogenannten Nichtanwendungserlassen der Rechtsprechung widersetzt. Wer vor Gericht in steuerlichen Zweifelsfragen recht bekam, hatte dennoch kein Recht bei der Finanzverwaltung. Die Behörden ignorieren die Gerichte. Jüngstes Beispiel ist die steuerliche Anerkennung von Totalverlusten bei Kapitalanlagen. SPD und Union haben sich darüber beim Jahressteuergesetz verhakt. Nachdem der Bundesfinanzhof in verschiedenen Urteilen entschieden hat, dass nicht nur einseitig Vermögenszuwächse besteuert werden können, sondern auch Vermögensminderungen berücksichtigt werden müssen, will Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) dieses steuersystematische Prinzip aushebeln. Der Bundestag soll die einseitige Belastung von Gewinnen gesetzlich festschreiben. Die Begründung: Spekulanten dürfen ihre Verluste nicht der Allgemeinheit aufbürden. Wer als Anleger Risiken eingeht und Verluste erleidet, sie womöglich mit Derivaten klug absichert, wird damit zum Spekulanten herabgewürdigt. Zugleich ist privates Kapital politisch begehrt: für innovative Unternehmen, für Investitionen und Altersvorsorge. Wie immer ein Kompromiss in der großen Koalition aussehen kann, das Steuerrecht wird aus lauter Sorge vor mangelnder Gerechtigkeit dadurch deutlich komplizierter. Schon geschehen ist dies bei der bereits beschlossenen Grundsteuernovelle. Das Verfassungsgericht hatte diese Reform dem Gesetzgeber aufgedrückt. Das Bestreben der SPD, mit einem wertabhängigen Modell vermeintlich Gerechtigkeit zu schaffen, hat das einfachere Flächenmodell deutschlandweit verhindert. Die neue Öffnungsklausel für die Länder dürfte nun Unterschiede sogar vergrößern. Wie ungerecht! Bei der geplanten Reform der Grunderwerbsteuer werden Kollateralschäden billigend in Kauf genommen. Der Versuch, steuersparende “Share Deals”, also in Anteilen verpackte Grundstückstransaktionen, zu verhindern, bürdet auch Unternehmen Lasten auf, die eigentlich keine Steuern sparen wollen.Besonders absurd wird die Märchenstunde bei Steuern mit progressiver Wirkung. Die Tatsache, dass mittlere und obere Einkommen den Steuertopf relativ stärker als andere dotieren, wird ihnen bei Steuersenkungen zum Verhängnis. Der Soli wird von 2021 an für 90 % der Zahler abgeschafft, aber die restlichen 10 % schultern weiterhin die Hälfte des Aufkommens. Die Forderung nach vollständiger Abschaffung des Zuschlags auf die Einkommensteuer geißelt Scholz als “Steuersenkung für Millionäre”. Es liegt in der Logik des progressiven Tarifs, dass eine Entlastung diejenigen stärker begünstigt, die überproportional zahlen. Die besagten “Millionäre” sind vielfach Unternehmen, die weiterhin die – vor einem Vierteljahrhundert für die Deutsche Einheit eingeführte – Sonderabgabe schultern. So findet sich – kaum überraschend – die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags als erster Punkt auf der Forderungsliste der Wirtschaft. Dies wäre auch der erste richtige Schritt, um Steuerpolitik wieder zu Standortpolitik zu machen. ——Von Angela WefersSteuerpolitik ist von der Standortpolitik zur Gerechtigkeitsfrage degradiert worden. Darunter leidet die deutsche Wirtschaft.——