Marktstrategen warnen vor erodierender US-Fiskalstabilität
Tiefe Zweifel an US-Fiskalstabilität
Marktstrategen warnen vor Konsequenzen stark ausgeweiteter Schuldenquoten – Absagen an benötigte Haushaltsreformen
Die Aussicht auf explodierende US-Verschuldungsquoten treibt Marktstrategen um. Denn eine als dringend nötig angesehene Fiskalreform gilt unabhängig vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen als unrealistisch. Nun geht vielmehr sogar die Furcht davor um, dass die Fed ihre Unabhängigkeit einbüßen könnte.
xaw New York
Während der US-Präsidentschaftswahlkampf in die heiße Phase geht, tritt ein tiefes und parteiübergreifendes Problem weit in den Hintergrund. „Beide Kandidaten, Kamala Harris und Donald Trump, vertreten wirtschaftspolitische Pläne, die das Haushaltsdefizit noch ausweiten statt eindämmen würden“, betont Brian Gardner, Washington-Chefstratege beim US-Finanzdienstleister Stifel, gegenüber der Börsen-Zeitung. „Die Vereinigten Staaten fahren mit Blick auf Verschuldung und Haushaltsfinanzierung in absehbarer Zeit auf Autopilot.“
Das jährliche Defizit ist gegenüber der Hochphase der Corona-Pandemie – 2020 schoss es auf über 3,1 Bill. Dollar – zwar zurückgegangen, liegt mit kumuliert mehr als 1,5 Bill. Dollar im bisherigen Jahresverlauf aber auf Niveaus, die sich vor der Finanzkrise 2008 nie auch nur in Reichweite befanden. Das Congressional Budget Office (CBO) geht davon aus, dass der Unterschuss in den kommenden drei Jahrzehnten auf 8,5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) klettern dürfte.
Bald in einer Liga mit Italien
Die Staatsverschuldung lag im Verhältnis zum BIP in den vergangenen vier Jahren auf Niveaus, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht gesehen wurden, und könnte nach CBO-Prognosen innerhalb der kommenden Dekade in die Richtung von 140% klettern. Die USA könnten sich „gemessen an der Schuldenquote rasch in die Liga von Japan oder Italien katapultieren“, warnt auch Jan Viebig, Chief Investment Officer von Oddo BHF.
Zwar sei die Toleranz der Märkte für die parteiübergreifende „Buy now, pay later“-Haltung in der amerikanischen Finanzpolitik größer und der Spielraum der USA damit weiter als jener der meisten anderen Staaten. Dennoch: „Die Anfälligkeit für Vertrauenskrisen dürfte steigen und damit auch die Volatilität an den Anleihemärkten“, betont Viebig. Die Ratingagenturen reflektieren dies bereits seit Monaten, Fitch senkte ihre Bonitätseinstufung der Vereinigten Staaten vor einem Jahr von der Spitzennote „AAA“ auf „AA+“. Und Moody’s gibt angesichts der hohen Defizite und der politischen Polarisierung, die effektive fiskalische Konsolidierungen erschwere, einen negativen Ausblick.
Das angeschlagene Vertrauen in den amerikanischen Staat als Emittenten und die hohe Inflation trieben die Renditen entlang der Treasury-Kurve im vergangenen Jahr auf die höchsten Niveaus seit 2007, zuletzt sorgte die Aussicht auf eine geldpolitische Lockerung der Federal Reserve wieder für Beruhigung. Derweil drohen Rufe nach einer grundlegenderen Haushaltsreform ungehört zu verhallen.
„Der Kongress ist notorisch risikoavers und wird nur in einer Krise handeln“, sagt Stifel-Stratege Gardner. Momentan sähen Wähler die Verschuldung nicht als signifikantes Problem, der Fokus liege auf dem Arbeitsmarkt, der Migration und der Kriminalität. Damit liege eine Fiskalreform auch nicht im Interesse der Parteien. „Das wird sich erst ändern, wenn die Wirtschaft nicht mehr ausreichend wächst und staatliche Leistungen im Rahmen der Sozialversicherung oder des Gesundheitssystems nicht mehr zu 100% garantiert werden können – Letzteres dürfte 2034 der Fall sein“, unterstreicht Gardner.
Niedrige Steuern als Problem
Die Republikaner kritisierten die Ausgaben für die Sozialversicherung und die öffentliche Krankenversicherung wiederholt. „Eine Kürzung der Ansprüche würde Millionen Amerikaner aufgrund der hohen Lebenshaltungs- und Gesundheitskosten unmittelbar in Armut stürzen“, betont Axel Botte, Stratege bei der Natixis-Tochter Ostrum Asset Management. Programme wie Obamacare zu beschneiden sei nicht praktikabel, weshalb dies selbst während der Trump-Präsidentschaft nie geschehen sei. Das fundamentale Problem bestehe vielmehr in einer zu niedrigen Besteuerung von Unternehmen und Privathaushalten. „Aber es zieht eben niemand ins Oval Office ein, indem er Steuererhöhungen verspricht“, sagt Botte.
Während Harris unter anderem mehr Steuergutschriften für Erstkäufer von Wohnimmobilien in Aussicht stellt, wirbt Trump damit, dass 2025 auslaufende Erleichterungen bei der persönlichen Einkommen- und Erbschaftsteuer permanent gemacht werden. „Dies allein wäre schon ein immenses Steuerpaket“, betont Viebig. Gemäß Berechnungen des CBO könnte eine dauerhafte Festschreibung der Bestimmungen aus dem Tax Cuts and Jobs Act von 2017 die US-Verschuldung um zusätzliche 3,5 Bill. Dollar treiben, hinzu kämen laut dem Oddo-BHF-CIO vermutlich „kostspielige Wohltaten“ wie die Steuerfreiheit von Social-Security-Leistungen und abermalige Senkungen der Unternehmenssteuern.
Höhere Importzölle als Trump-Lösung
Für eine Finanzierung sollen gemäß Trump-Beratern Importzölle herhalten. „Einfuhrzölle verlangsamen typischerweise das Wirtschaftswachstum“, gibt Ernst Konrad, Geschäftsführender Gesellschafter beim Vermögensmanager Eyb & Wallwitz, jedoch zu bedenken. Denn Vorprodukte und Konsumgüter würden teurer, die Investitionsbudgets der inländischen Unternehmen sänken aufgrund gestiegener Kosten und wachsender Unsicherheit. „Daneben dürfte es zu Vergeltungsmaßnahmen seitens der betroffenen Länder kommen“, betont Konrad.
In der Konsequenz seien Maßnahmen zur „Importsubstitution“ über Investitionsanreize und Steuererleichterungen wahrscheinlich. „Das ist teuer, und es bleibt fraglich, ob die erwarteten zusätzlichen Zolleinnahmen zur Deckung ausreichen“, führt Konrad aus. Viebig verweist auf Berechnungen des Thinktanks Tax Foundation, gemäß denen bisherige Erhöhungen der Zollsätze während der Präsidentschaften Trumps und Bidens insgesamt höchstens 80 Mrd. Dollar an Mehreinnahmen eingebracht hätten.
Während der Haushalt laut dem Oddo-BHF-CIO also aller Wahrscheinlichkeit nach auch über die Wahl hinaus „nicht auf soliden Füßen“ stehen dürfte, kritisieren Ratingagenturen die „Erosion des staatlichen Ordnungsrahmens“, die sich in politischen Streitigkeiten um die Schuldenobergrenze niederschlägt. Im Zuge des Konflikts aus dem vergangenen Jahr konnte sich die Treasury über Monate kein Geld über neue Wertpapiere leihen und musste den Markt dann binnen kurzer Zeit mit Anleihen fluten.
„Die Schuldenobergrenze ist barer Unsinn und wird von der republikanischen Seite seit geraumer Zeit als Waffe missbraucht“, moniert Botte. Weil die Treasury infolge von Streitigkeiten in Washington mitunter gezwungen sei, ihre Cash-Reserven bei der Fed aufzubrauchen, entstehe unnötiger Stress an den Finanzmärkten, was letztlich auch zu steigenden Kreditkosten für Verbraucher führe. Eyb-&-Wallwitz-Manager Konrad spricht sich statt eines Schuldenlimits für einen Richtwert für das jährliche Budgetdefizit im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung aus.
Furcht um Fed-Unabhängigkeit
Auch solche Reformoptionen dürften laut Analysten allerdings an Machtspielen in Washington scheitern. Vielmehr rückt im Falle eines Trump-Wahlsieges in den Fokus, inwieweit die Fed „die Eskapaden der Finanzpolitik akkommodiert“, wie es Viebig formuliert. Oddo BHF befürchtet, dass der Republikaner die Unabhängigkeit der Notenbank infrage stellen und eine langfristige Niedrigzinspolitik anstreben könnte – damit einher ginge neben steigenden Inflationserwartungen auch eine Schwächung der Währung.
Gerade der Status des Dollar als Weltleitdevise ermögliche es den USA bisher aber, Sorgen bezüglich der Schuldentragfähigkeit abzuwiegeln, betont Botte. Die Vereinigten Staaten stolpern angesichts der mangelnden Aussicht auf „gesunde“ Reformen also auf ein fiskalisches Dilemma zu, das an den globalen Finanzmärkten noch schwere Turbulenzen nach sich zu ziehen droht.