LEITARTIKEL

Mehr Eurozone wagen

In der Fehleranalyse sind sich die meisten Beobachter einig: Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion hatte zwei Geburtsfehler, die bis heute zu Instabilitäten und Problemen führen. Zum einen geht es darum, dass trotz einer europäischen...

Mehr Eurozone wagen

In der Fehleranalyse sind sich die meisten Beobachter einig: Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion hatte zwei Geburtsfehler, die bis heute zu Instabilitäten und Problemen führen. Zum einen geht es darum, dass trotz einer europäischen Geldpolitik die Etathoheit nationales Königsrecht bleibt. Die Fiskalpolitik gehört weiterhin zum Kernbereich der nationalen Souveränität, was ein Auseinanderfallen von Kontrolle und Haftung zur Folge hat. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt und die damit verbundene Haushaltskontrolle durch die Europäische Kommission hat dieses Problem nur wenig entschärft. Zum anderen wurden in der Währungsunion von Beginn an Länder mit höchst unterschiedlichen Voraussetzungen und Entwicklungschancen miteinander verknüpft.Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die vor zehn Jahren über Europa hinwegschwappte und deren Folgen bis heute nicht endgültig überwunden sind, hat die Schwachstellen schonungslos offengelegt. Von Konvergenz kann seither keine Rede mehr sein. Im Gegenteil: Immer deutlicher zeigen sich die Zentrifugalkräfte, die für ein Auseinanderdriften der wirtschaftlichen Entwicklung und für ein soziales Gefälle innerhalb der Eurozone sorgen. Neue Gefahrenherde entstanden – auf Bankenseite das Problem mit den faulen Krediten, auf öffentlicher Seite das mit den Schulden. Von 2007 bis 2014 legte die Staatsverschuldung in der Eurozone von 64 % auf durchschnittlich 94 % der Wirtschaftskraft dramatisch zu.Einig sind sich die meisten Beobachter deshalb auch noch in einem anderen Punkt: 25 Jahre nach dem Maastricht-Vertrag und 15 Jahre nach der Bargeld-Einführung ist der Status quo der Währungsunion nicht die Lösung. Die Eurozone muss widerstandsfähiger werden und effektivere, transparentere Entscheidungsstrukturen bekommen, um besser auf die nächste Krise vorbereitet zu werden. Die diesbezügliche Reformdebatte, die in den vergangenen Jahren von wenig Dynamik geprägt war, nimmt gerade wieder richtig an Fahrt auf. Es zeigt sich einmal mehr, dass oft nur akute Krisen zu einem Problembewusstsein und einem politischen Handlungswillen führen. In diesem Fall war es die Krise der EU insgesamt, ausgelöst von der Bedrohung durch wachsenden Populismus und Nationalismus und natürlich durch den Brexit, die zu einer Neuauslotung der Möglichkeiten führte. Ende März anlässlich des 60. EU-Geburtstages haben die Staats- und Regierungschefs in Rom noch einmal ihr Bekenntnis zu einem stabilen Euro, einer Vollendung der Währungsunion und einer Annäherung von Europas Wirtschaften erneuert. Die Wahl Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten gut einen Monat später hat die Reformdebatte endgültig gestartet.Die EU-Kommission hat nun einen ersten Aufschlag gemacht und Vorschläge bis 2025 vorgelegt. Es sind vorsichtig formulierte, vielfach schon bekannte Optionen, die aber zahlreiche kluge Ansätze enthalten. Nichts wäre falscher, als diese mit dem generellen Vergemeinschaftungsvorwurf gleich in den Schredder zu stecken. Denn natürlich gibt es ein Governance-Problem in der Eurozone mit mangelnder demokratischer Kontrolle von Institutionen und Entscheidungsstrukturen, das angegangen werden muss. Ob ein Euro-Finanzminister oder ein Eurozonen-Parlament Abhilfe schaffen, darüber kann diskutiert werden.Natürlich kann der Eurorettungsschirm ESM künftig eine tragendere Rolle im Gefüge spielen – ob als Teil eines Eurozonen-Schatzamtes oder als eigenständiger Währungsfonds muss man sehen. Natürlich wäre es gut, eine Fiskalkapazität zu haben, mit der auf Krisen reagiert werden könnte. Ob dies nun ein “Rainy-Day-Fonds”, eine Arbeitslosenrückversicherung oder eine Investitionsschutzregelung ist, muss politisch ausgehandelt werden. Und natürlich muss weiter an der Bankenunion gearbeitet werden. Wie dringend das Problem mit den faulen Krediten ist, sieht man aktuell in Italien. Die Eigenkapitalunterlegung von Staatsanleihen ist noch immer nicht gelöst. Und natürlich fehlt mittelfristig auch eine europäische Einlagensicherung – ungeachtet der Notwendigkeit weiterer Risikosenkungen im System.Die EU-Kommission sagt, es werde in der Eurozone wohl niemals eine gemeinsame Sicht über die beste Vorgehensweise geben. Das stimmt. Dennoch sind aktuell die Chancen für Kompromisse, selbst in den alten Nord-Süd-Konflikten, so groß wie lange nicht. Sogar der Wirtschaftsverband Business Europe spricht von einer “kostbaren Gelegenheit” zur Vertiefung der Währungsunion. Die Eurozone sollte die nicht verpassen.——–Von Andreas HeitkerDie Europäische Währungsunion leidet noch immer unter Geburtsfehlern. Aber nie in den letzten Jahren war die Gelegenheit für Reformen so günstig.——-