Mitten im Kampfring
Von Angela Wefers, Berlin
Zu sachlich und nicht emotional genug für einen großen Moment – so hatte mancher Kommentator die vermeintlich letzte Regierungserklärung von Angela Merkel (CDU) vor dem EU-Gipfel im Juni eingestuft. Sie schien einen Schlusspunkt nach 16 Jahren Kanzlerschaft zu setzen. In der Politik kann aber schnell etwas Unerwartetes geschehen und alles wenden. Die Flut ergoss sich im Juli vor allem in Regionen Nordrhein-Westfalens und in Rheinland-Pfalz – mit fatalen Folgen für Menschenleben, für Heim und Hof, für Hab und Gut. Der August brachte die Tragödie in Afghanistan. Die Westalliierten hatten das Tempo des Vormarschs der Taliban derart unterschätzt, dass es nur ein Noteinsatz der Bundeswehr erlaubt, Landsleute und afghanische Helfer außer Landes zu bringen. Um alle zu evakuieren, wird die von den USA gesetzte Zeit bis Monatsende nicht reichen, hat Außenminister Heiko Maas (SPD) bekannt.
Und so stand die Kanzlerin mitten in der Sommerpause erneut, aber vielleicht wirklich zum allerletzten Mal vor der Abgeordneten, um das Desaster in Afghanistan zu erklären und nachträglich um die Zustimmung der Parlamentarier für den Noteinsatz der Bundeswehr zu bitten. Weil der Bundestag den Fluthilfen in einem Wiederaufbaufonds ebenfalls zustimmen muss und die wieder steigenden Infektionszahlen zum Handeln in der Coronakrise zwingen, damit es nicht zum nächsten Lockdown kommt, erstreckte sich die Tagesordnung der Sondersitzung auch auf diese Punkte.
Die Debatte mitten in der heißen Phase des Wahlkampfs machte das Plenum auch zum Kampfring – zur Abrechnung mit dem politischen Gegner. Es gab aber auch die Chance zur Annäherung an mögliche Partner. Allen drei Kanzlerkandidaten bot die Debatte Gelegenheit, das Wort zu ergreifen. Die schärfste Rede hielt Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock – ein Privileg von Oppositionspolitikern, die nicht in der Verantwortung stehen. Baerbock sprach von einem „Desaster“ und warf Außen-, Innen-, Finanz- und Verteidigungsministerium sowie dem Kanzleramt schwere Versäumnisse vor. Merkel hatte zuvor das Dilemma der Regierung geschildert und dafür geworben, nicht leichtfertig im Nachhinein über Entscheidungen zu urteilen, die eine Regierung unter Unsicherheit treffe. Die Gespräche mit den Taliban will die Kanzlerin fortführen, um möglichst viele Menschen zu schützen. Die Analyse der Ereignisse werde Zeit brauchen. Die Lehren daraus werden die künftige Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen. Baerbock reicht die von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich angeregte Enquetekommission nicht aus: Sie forderte einen Untersuchungsausschuss. FDP-Chef Christian Lindner unterstützt den Vorschlag von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet, einen Bundessicherheitsrat für Entscheidungen dieser Art einzurichten. Einen Untersuchungsausschuss fordert auch die FDP. Der Linken sprach Lindner indes die Regierungsfähigkeit ab, weil sie für den Rettungseinsatz der Bundeswehr die Rückdeckung verweigert. Die Fraktion enthielt sich weitgehend dazu.
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hatte bessere Karten als die Kanzlerin. Er überließ die Afghanistan-Debatte dem SPD-Fraktionschef. Moderat sprach der Finanzminister zum Flutfonds, lobte Solidarität und Zusammenhalt in der Not und mahnte zur Vorsorge vor neuen Klimafolgen. Auch Laschet wählte die Flutdebatte als seine Bühne. Der Landesvater aus Düsseldorf dankte für schnelle Hilfe vor allem der ostdeutschen Bundesländer für den Westen über den Fluthilfefonds. Gezielt attackierte er die AfD, aber ging auch hart mit den Grünen um. Der Wahlkampf ist endgültig in der heißen Phase angekommen.