Muttersöhnchen wider Willen
Sechs Millionen Italiener haben überhaupt keine oder allenfalls zeitweise Beschäftigung. Mit 38,4 % wies das Land zuletzt auch die höchste Jugendarbeitslosigkeit seit Kriegsende auf. 1,5 Millionen Jugendliche haben in den vergangenen 10 Jahren ihre Arbeit verloren. Das ist mehr als in jedem anderen Land Europas. “Der Arbeitsmarkt ist das dringendste Problem Italiens”, sagt der Mailänder Arbeitsmarktexperte Tito Boeri, Professor an der Elite-Universität Bocconi. Deshalb hätten Reformen in diesem Sektor Priorität. Der neue Regierungschef Enrico Letta hat den Arbeitsmarkt bereits zur wichtigsten Reformbaustelle erklärt.Zu den hohen Erwerbslosenzahlen hat nicht nur die lahme Konjunktur beigetragen, sondern auch die rigiden Arbeitsmarktbestimmungen. Während älteren Angestellten nur sehr schwer gekündigt werden kann, bekommen junge Menschen erst gar keinen Job. Zwar hat Ex-Regierungschef Mario Monti bereits versucht, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen, doch ist ihm das nicht recht gelungen. Ein Kompromiss mit den Gewerkschaften hat die Situation nicht verbessert. Denn die Gewerkschaften vertreten die Interessen ihrer alten Klientel und nicht die der jugendlichen Arbeitslosen oder die von Zeitarbeitern.* Italiens Wirtschaftsmetropole Mailand reagiert auf die Arbeitslosigkeit und richtet sich auf die weniger kaufkräftigen Kunden ein. Im Quartier Isola, einem ehemaligen Yuppie-Bezirk rund um den Garibaldi-Bahnhof, wirbt etwa eine kleine Pizzeria mit “Pizza Precaria” (Pizza für befristete Zeitarbeiter). Vier Euro kostet diese Pizza, eine Miniausgabe der klassischen Pizza Margherita. Daneben lockt eine Bar mit günstigem “Krisen-Aperitivo”. Aperol wird nicht mit Prosecco, sondern mit Sodawasser gemischt. Im hippen Isola-Quartier geben zudem nicht mehr Markenboutiquen, sondern Second-Hand-Geschäfte den Ton an. Heute ist man auf bescheidenere Kundschaft angewiesen: auf junge Leute, die trotz ihres mageren Einkommens nicht auf kleine gastronomische und andere Freuden verzichten wollen.Einige Schritte entfernt von der Pizza Precaria treffen sich im Lokal “Pianoterra” wöchentlich junge Leute zum Gedankenaustausch. Sie haben einen ähnlichen sozialen Hintergrund. “Sa Precario” heißt die von Mailänder Soziologen geleitete Organisation. Die meisten Mitglieder sind gut ausgebildete Akademiker mit befristeten Arbeitsverträgen und einem Monatsgehalt von im Schnitt 836 Euro. Ihre gemeinsamen Probleme liegen u. a. in ihrer Überqualifizierung. So empfiehlt Dottoressa Piera – mit ihrem abgeschlossenen Wirtschafts- und Jurastudium – Gleichaltrigen, nie zu präzise zu arbeiten, dies erwecke den Eindruck, überqualifiziert zu sein und könne eine Vertragsverlängerung verhindern. Bei der Bewerbung soll nicht die gesamte Ausbildung angegeben werden. Qualifizierung ist hier kein Argument zur Arbeitsplatzbeschaffung. Die Juristin Piera selber arbeitet als Telefonistin.*Nicht nur die Gewerkschaften lassen die jungen Italiener im Stich. Auch der Staat tut nichts für sie, sondern überlässt sie ihren Familien. In kaum einem anderen EU-Land leben deshalb so viele 30-Jährige daheim. Viele sind nie ausgezogen. Mehr als 70 % kehren nach Hause zurück, wenn sie ihren Job verloren oder ihr Studium beendet haben. Zwei Drittel wären zwar lieber unabhängig geblieben, konnten es sich aber nicht leisten, ergab eine Umfrage der Mailänder Universität Cattolica. Titel: Muttersöhnchen wider Willen.