LEITARTIKEL

Nation im Flüchtlingsstrudel

Seit Deutschland mit dem unerwartet starken Zustrom von Flüchtlingen konfrontiert ist, steht das Land Kopf. Viele blicken kopfschüttelnd auf Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die im September kurzzeitig die Grenzen weit geöffnet hatte und nun trotz...

Nation im Flüchtlingsstrudel

Seit Deutschland mit dem unerwartet starken Zustrom von Flüchtlingen konfrontiert ist, steht das Land Kopf. Viele blicken kopfschüttelnd auf Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die im September kurzzeitig die Grenzen weit geöffnet hatte und nun trotz aller Versuche aus den eigenen politischen Reihen, den Flüchtlingsstrom zu begrenzen, an ihrem Kurs festhält. Obergrenzen, wie sie die CSU und ihr Chef Horst Seehofer wollen, sind für Merkel kein Ausweg. Sie setzt auf eine europäische Lösung und will das Flüchtlingsproblem an der Wurzel packen. Es scheint einsam um Merkel zu sein, die noch vor wenigen Monaten als mächtigste Frau in Europa, wenn nicht gar in der Welt galt. Die CSU droht offen damit, die Gefolgschaft zu versagen. Große Teile der CDU sind ebenfalls nervös. Stürzt die Kanzlerin, könnte mit ihr die Macht verloren gehen. Deshalb werden schon Szenarien durchgespielt, wer Merkel ablösen könnte, um wenigstens die Macht zu erhalten. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ist der Einzige, dem die Union dies zutraut. Dass er sich selbst den Posten zutrauen würde, steht außer Frage.Ausgerechnet eine Gefühlsanwandlung soll es gewesen sein, die Merkel bewogen hat, die Schlagbäume zu öffnen. Merkel, die Rationale, von Gefühlen übermannt? Die Kanzlerin nutzt ihren Verstand und denkt Dinge bis zum Ende. Gefühle fallen in die Kategorie “Privatsache”. Eine politische Dimension räumt sie denen nicht ein. So war es zuvor – und so ist es jetzt. Dennoch ist die Zukunft Merkels und der schwarz-roten Regierung unter ihrer Führung unsicher. Fakt ist, dass die ungeheuer große Zahl von Zuwanderern aus einem anderen Kulturkreis vielen Menschen hierzulande Angst macht. Hinzu kommt, dass kein Ende in Sicht scheint. Politische Profiteure sind diejenigen, die mit der Angst spielen: die Pegida-Bewegung und die Partei AfD.Eine Begrenzung der Zuwanderung in Deutschland streben alle an – einschließlich Merkel. Wenn die Administration hierzulande unter dem Ansturm zusammenbricht, ist keinem geholfen. Was aber ist machbar? Die CSU will eine Obergrenze für alle. Diesem Wunsch hat in diesen Tagen erst Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle widersprochen: Zuwanderung kann demnach von der Politik begrenzt werden, das Asylrecht dagegen gilt für jedermann. In der aktuellen Gemengelage ist es nötig, das eine vom anderen genau zu unterscheiden. Dazu braucht es einen starken Staat, der Asylverfahren zügig und rechtssicher beschließt, über Ausweisungen entscheidet und Abschiebungen durchsetzt. Dabei helfen Hotspots, also Registrierungszentren, in denen schnell sortiert wird. Ein größere Gruppe von sogenannten sicheren Herkunftsländern, wie sie nun mit Algerien, Marokko und Tunesien im Asylpaket II geplant ist, unterstützt dies ebenfalls. Für die Nichtasylanten braucht es ein Einwanderungsgesetz, das festlegt, wer willkommen ist – und wie viele. Ein durchsetzungsfähiger Staat ist in puncto Sicherheit nötig, wenn es gilt, unsere Lebensart und Vorstellung von Freiheit zu verteidigen. Dies sind die Lehren aus Köln. Deutschland mag für Flüchtlinge ein Paradies sein. Trotzdem darf nicht jeder machen, was er will.Die Festlegung einer absoluten Obergrenze für Flüchtlinge ist auch jenseits der Vorgaben des Grundgesetzes zu kurz gedacht. Diese löst kein einziges Problem. Ein Limit mag vielleicht in Bayern helfen. Flüchtlinge werden aber weiter durch Europa wandern. Der Stau verschiebt sich nur von Grenze zu Grenze. Freizügiger Reise- und Güterverkehr war dann einmal. Das Ende des Schengen-Raums wäre die Kapitulation Europas davor, Vereinbarungen einzuhalten und Außengrenzen kontrollieren zu können, wie es die Verträge vorsehen. Auch andere Verträge wie der Stabilitätspakt oder der Fiskalvertrag wären dann schnell Makulatur. Die Gemeinschaftswährung Euro geriete unter Druck. Der deutschen Wirtschaft graut im Übrigen vor geschlossenen Grenzen, nachdem sich die Unternehmen mit ihren Produktionsabläufen und Lieferketten längst auf die Freizügigkeit eingestellt haben. Damit dies nicht geschieht, ist eine europäische Lösung nötig. Entscheidend für die Zukunft der schwarz-roten Regierung und Merkels Kanzlerschaft wird sein, wie schnell es gelingt, dass die Verwaltung hierzulande Erfolge zeitigt, die geflüchteten Menschen unterzubringen und in raschen Verfahren über ihren Verbleib zu entscheiden. Wenn das Vertrauen in den Staat zurückkehrt, wird der Regierung auch eher wieder eine europäische Lösung zugetraut. So kann Merkel ihr Dilemma zwischen Glaubwürdigkeit und Machterhalt auflösen.——–Von Angela WefersDie Kanzlerin steckt im Dilemma zwischen Glaubwürdigkeit und Machterhalt. Ein starker Staat, der auf dem Boden des Grundgesetzes handelt, kann ihr helfen.——-