Neue Strukturen gegen deutsche Wirtschaftsflaute
Neue Strukturen gegen deutsche Wirtschaftsflaute
Nagel, Kooths und Fratzscher sehen Potenzial für den Standort Deutschland – Gegen Subventionen und für Transformation
wf Berlin
Vor einer öffentlich subventionierten Verfestigung von Industriestrukturen in Deutschland haben in seltener Einmütigkeit die Wirtschaftswissenschaftler Stefan Kooths vom IfW Kiel und Marcel Fratzscher vom DIW Berlin gewarnt. Auch Bundesbankpräsident Joachim Nagel hält Veränderungen für nötig, zeigte sich aber beim Blick auf die gebeutelte energieintensive Industrie hierzulande deutlich optimistischer als die Forscher. „Deutschland wird ein starker Standort sein“, sagte Nagel bei einer Podiumsdiskussion in Berlin anlässlich der Ludwig-Erhard-Lecture der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Für Kassandrarufe sei es zu früh. Die Lecture selbst hatte Nagel gehalten und darin die Digitalisierung als Chance für Wachstum und Wohlstand in Deutschland herausgehoben. Gelingen könne dies mit Offenheit für neue Ideen und Raum für innovative Lösungen in der digitalen Transformation.
Eine andere Haltung zeigte Fratzscher. „Ich mache mir große Sorgen“, sagte er mit Blick auf die deutsche Konjunktur- und Wachstumsschwäche. Angesichts der riesigen Herausforderungen seien die öffentlichen wie privaten Investitionen zu schwach. Nicht ganz so pessimistisch schaut er auf die Resilienz des Wirtschaftsstandortes. Die Energiekosten seien hierzulande noch nie ein komparativer Vorteil gewesen. Aktuell und für die nächsten zehn bis 15 Jahre werde der komparative Nachteil noch größer sein.
Abwanderung als Lösung
Es sei ein extrem wichtiges Ziel, die Substanz der Industrie in Deutschland zu erhalten, betonte Fratzscher. Die Industrieunternehmen böten viele gute Arbeitsplätze, seien innovativ und sorgten für positive Spill-over-Effekte. „Nur das Ziel kann nicht sein, existierende Strukturen zu zementieren“, konstatierte der DIW-Chef. Veränderungen müssten auch innerhalb der Industrie zugelassen werden. Es sei nicht per se ein Problem, wenn energieintensive Industrie ins Ausland abwandere. „Dies kann eine notwendige Bedingung sein, um einen industriellen Kern hierzubehalten.“ Eine Zementierung von Strukturen würde die Deindustriealisierung eher beschleunigen, zeigte sich Fratzscher überzeugt.
Kooths mahnte zu Strukturreformen, um den Wirtschaftsstandort attraktiv zu halten. Große Reformen lägen 20 Jahre zurück. Auf den Erfolgen – etwa beim Arbeitsmarkt – ruhe sich Deutschland aus. Es müsse sich lohnen, in Deutschland zu investieren. Dafür müssten die Angebotsbedingungen verbessert werden. Zudem warnte Kooths: „Wir sollten nicht krampfhaft festhalten an irgendwelchen Industriestrukturen, die sich hier ausgeprägt haben.“ Wenn die Bedingungen dafür nicht mehr gegeben seien wie bei energieintensiven Unternehmen, sei der Versuch einer Unterstützung mit staatlichen Subventionen aussichtslos. „Das ist eine Brücke ins Nichts.“ Es müssten gute Marktbedingungen geschaffen werden und dem Markt überlassen bleiben, welche Strukturen sich herausbildeten – und nicht umgekehrt, stellte der Forscher fest.
Nagel widersprach der zuletzt häufiger geäußerten Darstellung, Deutschland sei der kranke Mann Europas. „Wir haben unsere Baustellen“, räumte Nagel mit Blick auf die aktuelle Stagnation und ein voraussichtlich nur leichtes Wachstumsplus im kommenden Jahr ein. Die Themen Dekarbonisierung, Digitalisierung oder demografischer Wandel müssten politisch angegangen werden. „Da ist jetzt Geschwindigkeit gefragt“, mahnte Nagel. Die Wettbewerbsfähigkeit müsse wieder verbessert werden. „Aber wir dürfen uns auch nicht schlechter machen, als wir sind.“ Die deutsche Wirtschaft habe immer wieder ihre Adaptionsfähigkeit gezeigt – auch in den vergangenen Jahrzehnten. Es gebe viele innovative Unternehmen. „Aber: Wir dürfen auch nicht selbstgefällig sein, wir müssen in die Puschen kommen.“