NOTIERT IN LONDON

Nice New World

Adipositaschirurgie, Statine und jetzt auch noch die Pille gegen Alkoholismus - wer glaubt, dass in Großbritannien Eigenverantwortung groß geschrieben wird, hat die Rechnung ohne die Technokraten der Gesundheitsverwaltung gemacht. Nice steht für...

Nice New World

Adipositaschirurgie, Statine und jetzt auch noch die Pille gegen Alkoholismus – wer glaubt, dass in Großbritannien Eigenverantwortung groß geschrieben wird, hat die Rechnung ohne die Technokraten der Gesundheitsverwaltung gemacht. Nice steht für National Institute for Health and Care Excellence. George Orwell hätte seine Freude an der Abkürzung für das Institut, das für alles eine kostengünstige medikamentöse oder chirurgische Lösung findet. Millionen Briten werden Statine verordnet, um den Cholesterinspiegel zu senken. Der neueste Streich: Nalmefen von Lundbeck für all diejenigen, die täglich mehr als drei Bier oder zwei Gläser Wein konsumieren. Eine Tablette am Tag soll ihnen die Lust am Trinken nehmen. Kostenpunkt: etwas mehr als 3 Pfund das Stück, ein Pappenstiel gegen die Behandlung einer Leberzirrhose. In Schottland wird das Präparat bereits seit Oktober vergangenen Jahres verordnet. Nun wird sein Einsatz auch in England und Wales diskutiert. Auf 600 000 schätzt Nice die Zahl derjenigen, die für eine Behandlung in Frage kämen. Lundbeck geht davon aus, dass die Pille im ersten Jahr 5 800 Patienten in England und Wales verordnet werden könnte. Im fünften Jahr könnten es fast 66 000 sein. Die Wirksamkeit der Pille ist jedoch umstritten, denn klinische Tests wurden mit Kandidaten durchgeführt, die der Trunksucht entsagen wollten.Alkoholkonsum führt zur Freisetzung von Dopamin in dem Teil des Gehirns, der wesentlich an der Entstehung der Emotion “Freude” beteiligt ist. Nalmefen sorgt dafür, dass weniger davon frei wird. Es gäbe auch andere Wege, gegen Alkoholabhängigkeit vorzugehen: mehr Aufklärung unter Jugendlichen, Einschränkungen der Werbung für alkoholhaltige Getränke oder die Einführung eines an den gesellschaftlichen Folgekosten der Sucht orientierten Mindestpreises für Alkohol. In Schottland sollte ein solcher Mindestpreis von 50 Pence pro Einheit eingeführt werden, allerdings gingen Herstellerverbände wie die Scottish Whisky Association erbittert dagegen vor. Gegen die von Nice empfohlene Pille ist der geringste Widerstand zu erwarten. Also wird ein Medikament, das Abläufe im Gehirn beeinflusst, eingesetzt, um ein kulturelles Problem zu lösen. Nice New World.Ähnlich ist die Vorgehensweise gegen die um sich greifende Fettleibigkeit. Adipositaschirurgie auf Rezept ist allemal einfacher, als sich mit den gesellschaftlichen Ursachen der Fresssucht auseinanderzusetzen oder gar die Hersteller von Fast Food, Süßgetränken und Snacks in die Pflicht zu nehmen. Zwei Drittel der Inselbewohner sind übergewichtig. Wer einen Body-Mass-Index von mehr als 40 erreicht, kann sich unter bestimmten Voraussetzungen unters Messer begeben.Oft wird Dicken wie auch Alkoholikern mangelnde Willenskraft unterstellt. Der Fall von Georgia Davis zeigt, dass es kulturelle Ursachen gibt, gegen die man auch mit einem festen Willen nur schwer ankommt. Bekannt wurde sie, als sie vom Massenblatt “Sun” zum “fettesten Teenager” der Insel ernannt wurde. Damals wog sie 200 kg. Sie war von ihrer Mutter schon mit sieben Jahren auf 70 kg aufgemästet worden – kein Alter, in dem man selbstbestimmte Entscheidungen zur Ernährung trifft. Davis verkaufte ihre Geschichte an die Medien und bezahlte von dem Geld einen Aufenthalt in einem US-Trainingslager für Übergewichtige. Dort nahm sie stark ab. Es hätte eine Erfolgsgeschichte werden können, aber Georgia kehrte in ihr gewohntes Umfeld zurück. Ihre Freunde konnten es sich nicht leisten, die Restaurants von Starkoch Jamie Oliver zu frequentieren. Es wäre auch keines in der Nähe gewesen. Aber Fast Food – ob Pizza, Pies, Pommes oder Curry – sind überall verfügbar und spottbillig. Auch ihre Familie hatte ihr Essverhalten nicht geändert. Und so kam es, wie es kommen musste: Vor zwei Jahren musste die Wand zu ihrem Zimmer im ersten Stock des Elternhauses eingerissen werden, um die mittlerweile 400 kg schwere Frau ins Krankenhaus transportieren zu können. Ob ein Magenband geholfen hätte? So urbritische Verhaltensweisen wie die fetttriefenden Fish and Chips mit drei Pints Industriebier oder einer Flasche Cola hinunterzuspülen lassen sich schwerer ändern als das Fassungsvermögen der Mägen der Dicken.