LEITARTIKEL

Nicht aus dem Schneider

Auf dem Papier sieht es wie ein klarer Fall aus: Die Wirtschaftsdaten aus dem Reich der Mitte geben deutliche Hinweise darauf, dass China nicht nur als erste große Volkswirtschaft der Coronavirus-Pandemie zum Opfer gefallen ist, sondern auch als...

Nicht aus dem Schneider

Auf dem Papier sieht es wie ein klarer Fall aus: Die Wirtschaftsdaten aus dem Reich der Mitte geben deutliche Hinweise darauf, dass China nicht nur als erste große Volkswirtschaft der Coronavirus-Pandemie zum Opfer gefallen ist, sondern auch als erste wieder überzeugend aus der Misere herauszufinden weiß. Der jüngste Datenkranz zeigt eine kräftige Belebung der Industrieproduktion, ein erstes Wiederanziehen der Konsumausgaben und einen solideren Trend bei den Anlageinvestitionen.Man darf damit von einer V-förmigen Konjunkturerholung sprechen, die es China erlaubt mit einem zwar moderaten, aber wenigstens positiven Wirtschaftswachstum aus dem Annus horribilis 2020 herauszugehen. Damit wird sich die weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft positiv von sämtlichen anderen großen Industrie- und Schwellenländern abheben. Bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rechnet man mit knapp 2 % Wachstum für China im Jahr 2020. China ist damit die einzige Volkswirtschaft unter den größten Industrie- und Schwellenländern, der man seitens der OECD in diesem Jahr überhaupt einen Outputzuwachs zutraut.Für Pekings Wirtschaftsplaner gibt es dennoch keinen Grund zu jubeln. So zeigt sich, dass hinter der Erholung der Wirtschaftskräfte ein sehr ungleichgewichtiges Wachstum steht. Während die klassischen Wirtschaftstreiber Industrieproduktion und Investitionen wieder unter Dampf stehen, steht die Erholung der Binnennachfrage und des Konsums noch auf tönernen Füßen. Im August hat man erstmals überhaupt in diesem Jahr wieder einen Zuwachs der Einzelhandelsumsätze gesehen. Chinas Verbraucher gehen wieder mehr aus, entwickeln Reisedrang und kaufen wieder vermehrt Autos und Haushaltsgeräte. Dahinter steht aber zweifelsohne eine aufgestaute Nachfrage aus den Zeiten des Corona-Lockdowns, die bald wieder verpuffen könnte.Ungleichgewichtig ist das Wachstum auch aus einem regionalpolitischen Blickwinkel heraus. Eine neue Studie des Thinktanks China Beige Book zeigt, dass sich Chinas Wirtschaftserholung fast ausschließlich auf bereits reiche süd- und ostchinesischen Küstenprovinzen sowie die Kapitale Peking bezieht, während strukturschwächere west- und zentralchinesische Regionen immer weiter zurückfallen. Dies spricht für wachsende, von der Coronakrise noch wesentlich verschärfte Einkommensdisparitäten. Das wiederum passt schlecht zu dem gegenwärtig von der Zentralregierung verbreiteten Bild, dass Chinas Armutsbekämpfungsoffensive auf Siegestour eingeschwenkt ist und dass gerade die besonders strukturschwachen Regionen wie Gansu, Qinghai, Tibet und Xinjiang besonders gut gedeihen.Auch Chinas Arbeitslosenstatistik und eine im Vergleich zur Situation in westlichen Ländern extrem komfortabel wirkenden Arbeitslosenquote von 5,6 % liefert ein verzerrtes Bild. Dutzende Millionen Wanderarbeiter, die von der Coronakrise härter als normale Arbeitnehmer getroffen wurden und praktisch nicht auf soziale Auffangmaßnahmen zurückgreifen können, sind in der Statistik nicht enthalten. Da sie in ihrer Gesamtheit ein wichtiger Kaufkraftfaktor sind, kann man davon ausgehen, dass die erlahmten Konsumkräfte zum Teil auf wachsende Einkommensdisparitäten zurückgehen, für die es keine rasche Lösung gibt.Hier braut sich Konfliktstoff für Chinas Wirtschaftsplaner zusammen, die seit dem Frühjahr einem neuen wirtschaftspolitischen Mantra der Staatsführung verpflichtet sind: Die Chose nennt sich Strategie der dualen Kreisläufe und soll als Antwort auf die sich immer weiter verschärfenden Streitigkeiten mit den USA gelten. Dahinter steht eine Art Autarkiebestrebung, beziehungsweise die Überzeugung, dass es China gelingen kann, sich durch die Stärkung eines internen Kreislaufes unabhängiger von der Bedrohung des Exportgeschäfts und globaler Lieferketten durch handels- und industriepolitische Restriktionsmaßnahmen der USA zu machen.Gegenwärtig zeigt sich der Plan vor allem in staatlichen Investitionsoffensiven, um Hochtechnologiebereiche zu fördern. Dies hilft allerdings kaum dabei, Chinas Wirtschaft durch Stärkung der Konsumkräfte außenwirtschaftlich unabhängiger zu machen. Letztlich bedarf es einer massiven Vermögensverschiebung vom Staat zu den privaten Haushalten, um den Konsum auf Vordermann zu bringen. Bei aller Freude über das V gibt es derzeit wenig Anzeichen dafür, dass dieser Brückenschlag gelingen kann. ——Von Norbert Hellmann Hinter dem chinesischen Wirtschaftswachstum steckt in diesem Jahr eine sehr ungleichgewichtige Konjunkturerholung.——