Im InterviewMary C. Daly

"Nicht voreilig den Sieg über die Inflation verkünden"

Im Interview spricht die Präsidentin der regionalen Fed San Francisco, Mary Daly, über den Kampf gegen die Teuerung, weitere Zinsschritte, den Abbau der Fed-Bilanz und die Geldpolitik der Zukunft.

"Nicht voreilig den Sieg über die Inflation verkünden"

Im Interview: Mary C. Daly

„Nicht voreilig den Sieg über die Inflation verkünden“

Die Präsidentin der Fed San Francisco über den Kampf gegen die Teuerung, weitere Zinsschritte, den Abbau der Fed-Bilanz und die Geldpolitik der Zukunft

In gut zwei Wochen steht die letzte Zinsentscheidung der US-Notenbank Fed in diesem Jahr an. Die Inflation ist deutlich zurückgegangen, liegt aber immer noch zu hoch. Und die Wirtschaft präsentiert sich recht robust, aber die Unsicherheit ist groß. Im Interview spricht Mary Daly, Präsidentin der regionalen Fed San Francisco, über die Lage und den Ausblick.

Das Interview führte Mark Schrörs.

Frau Daly, lassen Sie uns mit einer ganz einfachen Frage anfangen: Ist die Fed mit ihren Zinserhöhungen fertig?

Es ist noch zu früh, um das zu wissen. Wir sollten uns jetzt Zeit lassen, wachsam bleiben und überlegt handeln. Wir müssen besser verstehen, was in der Wirtschaft passiert und wie sich die Inflation entwickelt. Dann müssen wir darauf vorbereitet sein, entweder erneut die Zinsen zu erhöhen, wenn dies erforderlich ist, oder zu sagen, dass der Straffungszyklus abgeschlossen ist, wenn dies angemessen ist.

Die jüngsten Inflationsdaten sind recht positiv ausgefallen. Die Teuerung ist im Oktober überraschend deutlich auf 3,2% zurückgegangen. Das zyklische Hoch lag bei 9,1% im Juni 2022. Auch die Kernrate ohne Energie und Lebensmittel ist weiter auf 4,0% gesunken.

Ja, die jüngsten Inflationsdaten sind ermutigend. Aber wir dürfen nicht voreilig den Sieg über die Inflation verkünden. Wir wissen aus früheren Entwicklungen in der Geschichte, dass die Inflation manchmal sinkt und dann wieder steigt. Wir sind derzeit auf dem Weg, vorübergehend 2% zu erreichen. Es geht uns aber nicht um vorübergehende Preisstabilität. Wir müssen völlig sicher sein, dass wir diesen Weg gehen. Wir brauchen mehr Informationen, bevor wir das sagen können.

Sehen Sie die Gefahr einer zweiten Inflationswelle wie in den 1970er Jahren – zum Beispiel durch steigende Öl- und Energiepreise infolge der Gewalteskalation in Nahost?

Wenn man sich die 1970er Jahre ansieht, ist es so, dass die politischen Entscheidungsträger damals sagten: "Okay, wir sind fertig mit Zinserhöhungen." Und als sie das sagten, begann die Lohninflation wieder zu steigen. Das ist dieses Mal definitiv anders. Wir wollen auf keinen Fall den Fehler der 1970er Jahre wiederholen und einen Sieg verkünden, der noch nicht unser ist. Das Schlimmste, was wir den Amerikanern antun können, ob es sich nun um Unternehmen, Haushalte, Verbraucher oder kommunale Gruppen handelt, ist eine Stopp-Start-Geldpolitik, bei der wir die Zinserhöhungen stoppen, dann aber merken, dass wir noch nicht fertig sind und wir später noch mehr Arbeit leisten müssen.

Das alles spricht aber eher dafür, dass der Leitzins bei der Dezember-Sitzung das dritte Mal in Folge unverändert bleibt – bei 5,25% bis 5,5%?

Ich möchte keine Sitzung vom Tisch nehmen, weil wir laufend Daten sammeln. Da sind auch nicht nur die veröffentlichten Daten, die oft rückwärtsgewandt sind. Wir führen auch viele Gespräche mit Unternehmen und Verbrauchern. Bis Dezember gibt es noch sehr viele Informationen.

Und was sagen Ihnen Ihre Kontakte in diesen Gesprächen?

Die größte Sorge der Menschen ist immer noch die Inflation. Bei der wirtschaftlichen Entwicklung hat sich die Einschätzung stark verändert – von der Erwartung einer harten Landung zu einer weichen Landung oder sogar zu keiner Landung. Die Angst vor einer Rezession ist stark in den Hintergrund getreten. Das ist ein gutes Zeichen. Die Menschen erwarten jetzt von uns, dass wir geduldig sind. Wir sollen weder stur die Zinsen weiter anheben, ohne auf die Abschwächung der Wirtschaft zu schauen, noch zu früh aufhören und die Inflation erneut befeuern.

Es ist aber sehr schwierig, diese Balance exakt richtig hinzubekommen. Hielten Sie es da aktuell für besser, die Geldpolitik im Notfall lieber zu viel oder zu wenig zu straffen?

Die Politik ist in einer sehr guten Lage: Wir haben den Leitzins deutlich erhöht. Meiner Einschätzung nach sind jetzt die Risiken einer zu starken und einer zu schwachen Straffung in etwa ausgeglichen. Jetzt geht es um Risikomanagement. Ich habe derzeit keine Neigung zu einer übermäßigen Straffung. Die Zeit, in der wir wirklich besorgt waren, dass wir den Inflationsanker verlieren und sich eine Inflationspsychologie herausbildet, ist mehr oder weniger vorbei. Wir brauchen jetzt keine Versicherungsmentalität, bei der wir uns für den Fall einer steigenden Inflation absichern. Wir sollten einfach geduldig sein und wachsam bleiben.

Was würde denn eine weitere Zinserhöhung rechtfertigen?

Wenn wir zunehmende Beweise dafür hätten, dass die Inflation entweder wieder anzieht oder auch nur nicht weiter zurückgeht, würden wir nicht zögern zu handeln und den Zins weiter anheben. Das ist aber aktuell nicht unser Basisszenario. Wir schauen dabei nicht nur auf einen einzelnen Indikator, sondern auf eine ganze Bandbreite an Indikatoren. Ein Indikator, auf den ich zum Beispiel stark schaue, ist jener, der die Häufigkeit und das Ausmaß von Preisveränderungen durch Unternehmen misst. Ich höre immer öfter, dass die Unternehmen zwar steigende Preise immer noch weitergeben können, dass es aber immer schwieriger wird. Das ist ein gutes Zeichen für die Inflation. Aber wir müssen das weiter beobachten.

Und was würde für eine Zinssenkung sprechen? An den Märkten wird bereits spekuliert, dass der US-Leitzins im Jahr 2024 um insgesamt 100 Basispunkte gesenkt wird.

Nun, das ist, was es ist – Spekulation. Die Märkte haben offenbar eine andere Vorstellung als wir davon, wie der Prozess der Disinflation aussehen wird. Ich denke im Moment überhaupt nicht über Zinssenkungen nach. Ich denke darüber nach, ob wir genug Straffung im System haben und ausreichend restriktiv sind, um die Preisstabilität wiederherzustellen. Diskussionen über Zinssenkungen sind im Moment nicht besonders hilfreich. Wir sollten uns weiter auf die Senkung der Inflation konzentrieren.

Bei sinkender Inflation und unverändertem nominalen Leitzins steigt der reale Zins an, die Geldpolitik wird also tendenziell restriktiver. Das ist aber für sie kein Argument für Zinssenkungen?

Der Realzins ist sehr schwer zu messen und die Echtzeit-Schätzungen gehen fast so weit auseinander wie jene zum natürlichen Gleichgewichtszins. Wo genau der reale Zinssatz liegt, spielt als theoretischer Hintergrund in meine Überlegungen rein. Aber an einer solch unsicheren Grundlage können wir nicht unsere Geldpolitik ausrichten.

Sie haben einen zunehmenden Optimismus von Unternehmen und Verbrauchern zur US-Wirtschaft erwähnt. Wie schätzen Sie selbst den Ausblick ein? Es gibt ja durchaus auch noch Sorgen vor einer Rezession.

Das ist etwas, worüber sich viele Menschen Sorgen machen, und das ist menschlich. Aber ich glaube nicht, dass wir dafür im Moment Beweise sehen. Aber natürlich sind wir immer wachsam. Denn das Ziel ist es, die Inflation so sanft wie möglich zu senken. Aktuell werden unsere Inflationsdaten besser und unsere Realwirtschaft ist nicht ins Stocken geraten. Ich sehe aktuell keine Rezession am Horizont.

Die Rezessionssorgen basieren nicht zuletzt auf der invertierten Renditekurve, die in der Vergangenheit zumeist ein sehr sicherer Indikator für eine bevorstehende Rezession war.

Die Inversion ist inzwischen schon nicht mehr so stark ausgeprägt wie zu Jahresbeginn. Und es gibt einige Gründe, warum es dieses Mal anders sein könnte und die Korrelation nicht stimmt. Man sollte nicht zu sehr auf die invertierte Renditekurve fixiert sein.

Was macht sie so zuversichtlich für die Wirtschaft? Ist das vor allem der nach wie vor starke Konsum?

Ich bin optimistisch, weil die eingehenden Informationen zeigen, dass die Arbeitgeber nach wie vor einstellen. Und die Arbeitnehmer nehmen immer noch Stellen an. Das Arbeitskräfteangebot in den USA ist gestiegen und nicht gesunken. Die Produktivität nimmt zu. Es scheint, dass die Wirtschaft wirklich Schwung hat. Die Verbraucher geben weiter Geld aus. Das stützt die Realwirtschaft. Und das alles, während die Inflation sinkt. Das sind viele positive Signale. Das ist aber keine Garantie, dass es so weitergeht. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir die Mittel, die Strategien und den Willen haben, die Inflation zu senken, und zwar so schonend wie möglich für die Wirtschaft.

Und was macht Ihnen Sorgen? Viele Experten befürchten zum Beispiel Probleme am sehr zinssensiblen Häusermarkt.

Ja, der Häusermarkt reagiert in der Regel stark auf die Zinsen. Die Häusernachfrage ist aber relativ zum Häuserangebot nach wie vor sehr groß. Wir haben da eine strukturelle Lücke. Das sollte den Druck auf die Häuserpreise mindern. Ich erwarte keinen Kollaps bei den Häuserpreisen.

Wie erklären Sie sich eigentlich, dass die US-Wirtschaft immer noch so gut läuft – trotz des aggressivsten Zinserhöhungskurses seit Jahrzehnten?

Das hat meines Erachtens viel mit Pandemieeffekten zu tun. Die Menschen haben im Lockdown hohe Ersparnisse aufgebaut, weil sie ihr Geld nicht ausgeben konnten. Zudem stützt der Arbeitsmarkt. Wenn man Arbeit hat und bezahlt wird, wenn man überschüssige Ersparnisse hat und die Wirtschaft optimistisch sieht, dann hat man den Wunsch, die verlorene Zeit irgendwie aufzuholen. Die Flughäfen, die Hotels, die Restaurants – alles ist voll. Deswegen gibt es in der Wirtschaft ein starkes Momentum. Jetzt ist das Ziel, diesen Optimismus zu bewahren, aber gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft mit einem nachhaltigeren Tempo wächst. In etwa so wie im Jahr 2019 vor der Pandemie. So weit sind wir aber noch nicht. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bis wir nachhaltiges Wachstum und eine nachhaltige Preisstabilität erreicht haben.

Die US-Wirtschaft muss also noch stärker abkühlen?

Ich denke, die Wirtschaft muss noch etwas stärker abkühlen. Wir haben beim annualisierten Wachstum aktuell eine 4 vor dem Komma. Wir haben zusätzliche 150.000 neue Arbeitsplätze pro Monat. Dabei stünden eher 100.000 in Einklang mit unserem 2-Prozent-Ziel. Das heißt nicht, dass wir den Zins unbedingt weiter erhöhen sollten, bis wir sehen, dass diese Zahlen sinken. Ich sage, dass wir geduldig sein müssen. Wenn die Inflation weiter sinken kann, ohne dass sich diese Zahlen deutlich verschlechtern, wäre das gut. Aber wir können uns dessen nicht sicher sein. Hoffnung ist keine Strategie. Wir können nicht hoffen, dass die Entwicklung völlig störungsfrei abläuft, und dann auf dieser Grundlage unsere Politik machen

Aber das Ziel sind in jedem Fall die 2,0% – nicht 2,5% oder sonst etwas?

Wir haben Preisstabilität als durchschnittliche Inflation von 2% definiert.

Einige Experten argumentieren, dass zum Beispiel auch 2,3% in Ordnung sein müssten. Andere plädieren sogar erneut für eine Anhebung des Inflationsziels.

Ich höre so etwas oft von Marktteilnehmern, Ökonomen oder in den Medien. Ich höre das aber nicht von Unternehmen oder Verbrauchern. Sie wissen, dass 2,0% eben 2,0% sind. Und sie befürchten sogar, dass sich die ganze Gleichung ändert, wenn plötzlich 2,0% doch 3,0% bedeutet.

Als Argument für ein höheres Inflationsziel gilt eine womöglich strukturell wieder höhere Inflation – durch De-Globalisierung, Dekarbonisierung und Demografie.

Wir haben auch in der Vergangenheit strukturell höhere Inflation gehabt und haben unser Inflationsziel nicht geändert. Wir sollten sehr, sehr vorsichtig sein, die Inflationsziele, die Rahmenbedingungen und die Art und Weise, wie wir die Geldpolitik angehen, über Bord zu werfen, weil die Welt anders aussieht. Man schaut nicht auf eine Welt, die anders zu sein scheint, und sagt, dass alles geändert werden muss. Ich schaue auf eine Welt, die anders zu sein scheint, und sage: Wie kann ich neugierig sein auf das, was passiert, und wo setze ich meine Instrumente, meine Strategie, mein Denken ein, um sicherzustellen, dass wir unsere Aufgabe gut erledigen können?

Neben den Zinserhöhungen baut die Fed ihre vor allem durch die Anleihekäufe aufgeblähte Bilanz ab. Geht das weiter, auch wenn die Zinsen nicht mehr erhöht werden?

Bei der Bilanznormalisierung geht es um die Rückkehr zu einem System großzügiger Reserven, das von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Bei der Zinspolitik, die unser wichtigstes Instrument ist, geht es darum, den Leitzins ausreichend restriktiv zu gestalten und dann zu entscheiden, wie lange der Satz beibehalten werden soll. Wir sollten die beiden Dinge nicht vermischen. Wir können unsere Bilanz weiter reduzieren, auch wenn wir den Leitzins nicht mehr erhöhen.

Wie viel Liquidität braucht es denn künftig im Finanzsystem?

Das ist für uns ein ganz großes Thema. Aber ich habe noch keine Antwort auf diese Frage. Wir werden das diskutieren und dann ein angemessenes Niveau festlegen. Das Wichtigste ist jetzt aber, dass die Inflation weiter zu hoch ist und wir sie weiter senken müssen.


Zur Person:

Seit Oktober 2018 steht Mary C. Daly an der Spitze der regionalen Fed San Francisco. Sie gehört damit auch dem geldpolitischen Entscheidungsgremium der US-Notenbank Fed, dem FOMC, an. Innerhalb des FOMC gilt sie Beobachtern eher als Frau der Mitte, vielleicht mit Tendenz zum Lager der „Tauben“, also den Verfechtern einer eher lockereren Geldpolitik. Die promovierte Ökonomin hat 1996 ihre Karriere bei der Fed San Francisco begonnen. Als große Mentorin gilt die frühere Fed-Chefin und heutige US-Finanzministerin Janet Yellen, die auch zeitweise Präsidentin der Fed San Francisco war. Daly, Jahrgang 1962, bekennt sich offen zu ihrer Homosexualität und wirbt leidenschaftlich für mehr Diversität in der Notenbank.