GROSSBRITANNIEN VOR DEM EU-REFERENDUM - CONTRA BREXIT

"Nichts wäre so gut wie das, was wir schon haben"

EU-Befürworter stellen den Erhalt des Status quo in den Vordergrund - Nach einem Brexit drohen Preiserhöhungen und niedrigere Renten

"Nichts wäre so gut wie das, was wir schon haben"

Von Andreas Hippin, London”Es gibt da draußen einfach nichts, das so gut wäre wie das, was wir schon haben.” Mit diesem Satz von Lucy Thomas, der stellvertretenden Chefin der Kampagne Britain Stronger in Europe, lässt sich die Programmatik der EU-Befürworter gut zusammenfassen. Ob sich die Wahlberechtigten durch ein Lob des Status quo zur Stimmabgabe motivieren lassen, sei dahingestellt.Die Bremain-Kampagne bestritt ihren Wahlkampf damit, die wirtschaftlichen Folgen eines Brexit in den düstersten Farben darzustellen – unterstützt von zahllosen Experten, Politikern wie Angela Merkel und Barack Obama sowie führenden Vertretern internationaler Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds IWF, der OECD und der Welthandelsorganisation WTO. Dem Schatzkanzler George Osborne zufolge hängt einer von zehn Arbeitsplätzen am Handel mit dem Kontinent. Für jedes Pfund, dass man in die EU investiere, kämen fast 10 Pfund in Form von mehr Handel, Investitionen, Arbeitsplätzen und niedrigeren Preisen zurück. Neun von zehn Volkswirten erwarteten, dass ein Austritt der britischen Wirtschaft schaden würde.Hier liegt die Stärke der Brexit-Gegner. Ihnen wird die größere Kompetenz in Wirtschaftsfragen zugesprochen. Weil das offenbar nicht reicht, um das Patt in den Umfragen zu beenden, schießen sich einige ihrer führenden Repräsentanten nun auf den ehemaligen Londoner Bürgermeister Boris Johnson ein, dem unterstellt wird, sich nur deshalb für den Austritt einzusetzen, um Premierminister David Cameron im Amt zu beerben. Eine positive Vision eines vereinten Europas zu entwerfen, wurde offenbar gar nicht erst in Erwägung gezogen. Wie eine SteuerEin Brexit würde die britischen Haushalte wie eine Steuer belasten, nur dass damit keine öffentlichen Dienstleistungen finanziert oder Haushaltslücken geschlossen werden könnten, sagte OECD-Generalsekretär Angel Gurria an der London School of Economics. IWF-Chefin Christine Lagarde verlautbarte bei einem Auftritt zum Abschluss der Artikel-IV-Konsultationen in Whitehall, die Folgen wären “ziemlich schlecht bis sehr, sehr schlecht.” Genauere Schätzungen will der IWF aber erst wenige Tage vor dem Referendum veröffentlichen. Die von den Ökonomen der OECD auf 2 200 Pfund pro Haushalt veranschlagte “Brexit-Steuer” brächte keinerlei Nutzen, sondern wäre verlorenes Geld, sagte Gurria. Wenn man seine Botschaft der Griffigkeit zuliebe auf eine einzige Zahl reduzieren will, sollte es besser nur eine geben, um Irritationen zu vermeiden. Das Schatzamt hatte zuvor die Kosten pro Haushalt unter etwas anderen Vorgaben auf 4 300 Pfund jährlich beziffert. Und dem National Institute of Economic and Social Research zufolge könnte ein Brexit einige der ärmsten Haushalte schlimmstenfalls 5 542 Pfund an Steuererleichterungen und Sozialleistungen kosten. Die breite Spanne von Expertenschätzungen, die von einer Minderung des Bruttoinlandsprodukts von 1,5 % bis 9,5 % ausgingen, zeuge nicht etwa von grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten, sondern spiegele lediglich die unterschiedlichen Annahmen über die künftigen Handelsbeziehungen des Landes mit der Außenwelt, heißt es im Abschlussbericht des IWF zu den weit voneinander abweichenden Prognosen.Allgemein wird davon ausgegangen, dass das Vereinigte Königreich den reibungslosen Zugang zum gemeinsamen Markt mit 500 Millionen potenziellen Kunden verlieren wird. Weniger Handel bedeutet weniger Wachstum. Zudem drohen höhere Finanzierungskosten, sollte die Kreditwürdigkeit des Landes von den Ratingagenturen künftig schlechter bewertet werden. Die Briten würden all das aus Sicht der “Bremainians” im Alltag spüren, etwa in Form höherer Preise im Supermarkt, niedrigerer Bezüge im Alter und fallender Bewertungen ihrer Wohnimmobilien.Ein EU-Austritt würde einen über Großbritannien hinausgehenden “finanziellen Schock” auslösen, der durch die Aufwertung anderer Währungen gegen das Pfund noch verstärkt würde, heißt es im Bericht der OECD zum Thema Brexit. Es bestünde die Gefahr, dass hohe Kapitalabflüsse bzw. ein Abreißen der Zuflüsse die Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits bedrohen, das mit 7 % des Bruttoinlandsprodukts im vergangenen Quartal Rekordniveau erreicht habe. “Londons Status als globales Finanzzentrum könnte ebenfalls untergraben werden, weil Firmen aus Großbritannien ihre ,Passporting`-Rechte verlieren könnten, auf deren Grundlage sie im Rest der EU Finanzdienstleistungen anbieten, und weil viel Geschäft in Euro mit der Zeit auf den Kontinent abwandern könnte”, schrieben die IWF-Experten den Briten ins Stammbuch. Für den Devisen- wie für den Derivatehandel ist London der wichtigste Ort der Welt. Mehr als 250 ausländische Banken haben dort Niederlassungen. Wenn es um grenzüberschreitendes Banking geht, ist das Land führend.OECD-Chef Gurria führte auch politische Überlegungen ins Feld: “Ein Brexit könnte sowohl die Einheit des Vereinigten Königreichs gefährden – wegen des Wunschs Schottlands, Teil der EU zu bleiben, als auch die Einheit der EU selbst – wegen der Wahrscheinlichkeit, dass andere Länder glauben, es lohne sich, dem britischen Beispiel zu folgen.”Weitere politische Verwerfungen drohen in Nordirland, wie die beiden ehemaligen Premierminister Tony Blair und John Major bei einem gemeinsamen Besuch in Derry herausstrichen. Die Grenze zu Nordirland würde zur EU-Außengrenze, sagte Blair. Die von Vote Leave geforderte Begrenzung der Zuwanderung aus der EU ließe sich nur durch eine Wiederaufnahme von Grenzkontrollen bewerkstelligen. Bislang ermöglicht die in den zwanziger Jahren geschaffene Common Travel Area (gemeinsame Reisezone) den weitgehend kontrollfreien Verkehr zwischen Großbritannien, Guernsey, der Insel Man, Irland und Jersey. Die größten Probleme bekäme die Republik Irland, deren Wirtschaft mit der britischen in einer symbiotischen Beziehung verbunden ist.