Notbremse
Die Währungshüter in der Türkei haben die Notbremse gezogen. Anders lässt sich ihr gestriger Beschluss, den Leitzins erstmals seit mehr als zwei Jahren zu erhöhen, nicht deuten. Um es sich nicht mit dem selbst ernannten Zinsfeind Recep Tayyip Erdogan im Präsidentenpalast zu verscherzen, hatten die Notenbanker bislang unter dem Radar agiert: Sie griffen zu ihren Devisenreserven, bis die aufgezehrt waren. Sie erhöhten die Refinanzierungskosten für Banken marginal, bis ihr Spielraum nahezu ausgeschöpft war. Sie nahmen zweistellige Inflationsraten in Kauf, bis die Kaufkraftverluste der türkischen Verbraucher nicht mehr zu ignorieren waren. Den freien Fall der Lira konnten sie auf diese Weise nicht bremsen: Über Wochen, ja Monate fiel die Landeswährung auf immer neue Tiefstände.Im Prinzip konnte die Zentralbank nicht mehr anders, als gegen den Willen ihres Staatschefs die Zinsschraube anzuziehen. Der Schritt war alternativlos und überfällig – und dennoch reagierten Marktteilnehmer und Analysten überrascht. Das sagt alles über den Zustand der türkischen Zentralbank, die allenfalls noch auf dem Papier unabhängig ist. Die Entscheidung dürfte auch eine interessante innenpolitische Dynamik in Gang setzen, hat Erdogan doch erst vor einem Jahr bewiesen, was Geldpolitikern droht, die ihm die Gefolgschaft verweigern: Die Entlassung seines Vorgängers im Sommer 2019 war dem heutigen Zentralbankchef Murat Uysal Mahnung genug, wider ökonomischen Sachverstand am Zinssenkungskurs festzuhalten. Dass türkische Unternehmen, die vielfach in ausländischer Währung verschuldet sind, in immer größere Nöte kommen, diese Schulden zu bedienen, war nur eine Folge des Lira-Absturzes.Dieser ist mit der Zinserhöhung erst einmal gestoppt – ausgestanden ist die Krise damit nicht. Der für die Wirtschaft so eminent wichtige Tourismus schwächelt angesichts der Pandemie und der latenten Gefahr neuer Reisewarnungen weiter, wodurch auch wichtige Devisenbringer fernbleiben. Die von einem Kreditboom beförderte Konjunkturerholung steht auf wackligen Beinen. Auch geopolitisch bewegt sich die Türkei auf dünnem Eis: Wegen des militärisch aufgeladenen Konflikts mit Griechenland und Zypern um Erdgasvorkommen im Mittelmeer drohen Sanktionen der EU, wie sie Brüssel kürzlich bereits gegen eine türkische Firma wegen Verstößen gegen das Waffenembargo für Libyen verhängt hat. Immerhin: Türken und Griechen reden nun zumindest miteinander. Und Ankaras Währungshüter handeln wieder.