VOR DER ZINSWENDE

Notenbanken in der Zwickmühle

Über die Gewöhnungseffekte von Niedrigzinsen und Liquiditätsschwemme sowie die Gefahren des anstehenden monetären Entzugs

Notenbanken in der Zwickmühle

Von Stephan Lorz, FrankfurtSeit gut einem Jahrzehnt läuft in der westlichen Hemisphäre ein einzigartiges ökonomisches Experiment: Historisch niedrige Zinsen bis in den negativen Bereich hinein und eine über Anleihekäufe angeheizte monetäre Expansion gewaltigen Ausmaßes sollten die Wirtschaft nach der Finanz- und Schuldenkrise wieder auf einen nachhaltigen Wachstumspfad führen, das Bankensystem stabilisieren und die Deflationsgefahr bannen. Das ist weitgehend gelungen. Doch das Experiment scheint sich zu verselbständigen. Die Finanzmarktakteure, die Unternehmen und die Konsumenten haben sich daran gewöhnt, sie schwimmen in schier unbegrenzter Liquidität, Kredite sind für lau zu haben, die Zinslast ist gesunken – es fällt ihnen schwer, das aufgeben zu müssen.Wie in der Opioid-Krise in den USA, wo Abertausende Menschen durch Medikamente zwar von ihren Schmerzen erlöst wurden, davon aber nun nicht mehr lassen können, fällt eine Entwöhnung schwer. Am schwierigsten ist der Einstieg in die Therapie: die Entgiftung. Viele Notenbanker befürchten eine neuerliche Finanzkrise, weil die Probanden irrational reagieren könnten. Schließlich müssen langjährig stimmige Kalkulationen über den Haufen geworfen werden, viele Geschäfte rechnen sich nicht mehr, und manche Akteure könnten unter ihrer Schuldenlast zusammenbrechen. Zudem wird das Bankensystem erneut einem Stresstest unterzogen, weil langfristig niedrig verzinste Kredite ausgereicht wurden, die Zinsen für die Finanzierung am kurzen Ende aber steigen.Der monetäre Entzug wird rund um den Globus spürbar sein, einzelne Sektoren und Staaten aber unterschiedlich hart treffen. Der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing spricht von einem “tiefen Einschnitt”. Darauf müssten sich “Anleger, Märkte und die Welt einstellen”.Ein solches Szenario dürfte die EZB vor Augen gehabt haben, als sie Forderungen nach einer sofortigen geldpolitischen Wende in den Wind schlug. Die Anleihekäufe werden nun ab Januar nur von 60 auf 30 Mrd. Euro pro Monat reduziert, das Programm aber bis mindestens September 2018 verlängert. Der Leitzins soll weiter bei 0 % bleiben. Eine richtige “Zinswende” ist das nicht!Ein zügigerer Exit wäre auch deshalb angebracht, weil für sanfte Medizin keine Zeit mehr ist: Durch die ultralockere Geldpolitik bauen sich nämlich sukzessive immer neue Risiken auf. Ökonomen warnen vor Blasen an den Kredit- und Aktienmärkten. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, spricht schon von der “größten Anleihen-Blase in der Geschichte der Menschheit”. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) sieht Schwachstellen im Finanzsystem, die sich im Zuge der langen Minizinsphase weltweit aufgebaut hätten und sich bei einem zu zaghaften Exit eher vergrößern würden. In einigen Volkswirtschaften wie Deutschland kommt es schon zu ersten Überhitzungserscheinungen.Und auch die Staaten haben sich an ihre Financiers, die Notenbanken, gewöhnt. Fällt die monetäre Unterstützung weg, könnte die Schuldenkrise wieder aufflammen, zumal von einem konsequenten Schuldenabbau weltweit nicht die Rede sein kann (siehe Grafik) – ganz zu schweigen von den gesellschaftlichen Verwerfungen und der politischen Destabilisierung, welche die ultralockere Geldpolitik mit sich bringt, weil sie die Ungleichheit verstärkt und das Vertrauen in die marktwirtschaftliche Ordnung untergräbt.”Volle zehn Jahre nach Ausbruch der großen Finanzkrise scheint es mehr als angemessen, die Schalthebel der Geldpolitik aus ihrer Notfallposition zu schieben”, fordert US-Starökonom Stephen Roach. Er spricht zudem von einer “Inflationsbesessenheit” der Notenbanker, weil sie ihr Verhalten sklavisch an das Erreichen des Inflationsziels binden. Dabei würden “unter der Oberfläche Aktivitäten geschehen, die weitaus beängstigender” seien und sofortiges Handeln erforderten.Roach erinnert daran, dass nach der Dotcom-Blase schon einmal eine zu zaghafte Normalisierungsstrategie die nächste Krise nach sich gezogen hat. Und wie in den Jahren unmittelbar vor der großen Finanzkrise seien die Volkswirtschaften auch heute wieder viel zu vermögensabhängig geworden, was die Notenbanken in eine Zwickmühle bringe, der sie kaum entrinnen könnten.Was käme auf die Gesellschaft zu, wenn die Zinswende konsequenter durchgezogen würde? Unternehmen könnten sie noch vergleichsweise locker verkraften, meinen Ökonomen, weil die sich in der Regel nicht gleich mit billigen Krediten vollgesogen, sondern eher entschuldet hätten. Investitionen wurden, so Ifo-Ökonom Timo Wollmershäuser, weitgehend mit Eigenmitteln finanziert. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) geht davon aus, dass nur 0,7 % der deutschen Firmen durch Zinssteigerungen in Schwierigkeiten geraten würden. Anderswo sieht es indes anders aus: In Griechenland sind es dem IW zufolge 9,4 % der Unternehmen, in Italien 8,5 % und in Frankreich immerhin noch 5,7 %.Problematisch dürfte die Lage indes für die Banken werden. “Wenn sich die Zinsen verändern, müssen sie sofort mehr Geld an die Sparer bezahlen, erhalten aber von den Unternehmern und Hausbesitzern erst viel später eine Preiserhöhung. In der Zwischenzeit verlieren sie Geld”, warnt Jan Pieter Krahnen, Finanzökonom an der Goethe-Universität Frankfurt. Geht es nach dem aktuellen Stresstest der EZB, können die Banken eine Zinswende aber noch einigermaßen wegstecken.Größter Verlierer wäre zweifellos der Staat. Er hat von der unkonventionellen Geldpolitik wohl am meisten profitiert. Erhöhen sich die Zinsen nur um 1 Prozentpunkt, würde das für den deutschen Fiskus Mehrkosten von jährlich 20 Mrd. Euro bedeuten, hat Ifo-Forscher Wollmershäuser berechnet: “Wenn man das in Relation setzt zu den 15 Mrd. Euro, die zuletzt als Steuerentlastung diskutiert worden waren, sieht man, wie schnell einem Staat die verfügbaren Mittel schwinden können bei einer Zinswende.” Das gilt umso mehr, als die Anleihekäufe der Notenbanken in der Eurozone inzwischen eine viel größere Bedeutung für den Fiskus haben als einst die Liquiditätshilfen der Eurorettungsfonds EFSF und ESM. Die Ankäufe von 2015 bis 2017 haben zudem die Summe der Haushaltsdefizite weit überschritten. Unterm Strich konnten sich die Staaten also direkt über die EZB finanzieren. Aktuell dürfte das Eurosystem staatliche Anleihen im Umfang von knapp 18 % der gesamten Staatsverschuldung halten, schätzt Friedrich Heinemann, Finanzökonom am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW).Wie sich Märkte, Unternehmen, Konsumenten, der Staat und die internationalen Handelspartner letztlich bei einer Zinswende verhalten, ist indes ungewiss. “In der Ökonomie gilt das Gesetz der Irreversibilität. Nichts wird wieder so, wie es einmal war”, betont Martin W. Hüfner, Chefvolkswirt des Investmenthauses Assenagon. Die Rücknahme einer Maßnahme führe in aller Regel nicht wieder in den Ursprungszustand zurück. Womöglich würden die Marktzinsen bei einer Zinswende nur geringfügig steigen; und auch die Staaten würden durch eine Verringerung der Wertpapierkäufe nicht in die Bredouille gestürzt. Grund: die immensen Volumina weltweit Anlage suchenden Kapitals. Aber die Risiken nehmen immer weiter zu – und irgendwann realisieren sie sich und erschüttern das System. “Der Entzug ist erst der Anfang”, heißt es auf dem Berliner Sucht- und Beratungsportal. Nach der Entgiftung kommt die Entwöhnung – und die dauert noch viel länger; Rückfälle und neue tiefe Krisen inbegriffen. Aber der monetäre Entzug hat ja noch nicht einmal richtig begonnen.