NOTIERT IN BUENOS AIRES

Notizen aus dem Vakuum

In keinem Reiseführer über Buenos Aires darf San Telmo fehlen. Obwohl nur ein paar Straßenblocks südlich der Regierungsgebäude an der Plaza de Mayo gelegen, hat ein historisches Verhängnis die Altbauten und Kopfsteinpflaster dieses Viertels von der...

Notizen aus dem Vakuum

In keinem Reiseführer über Buenos Aires darf San Telmo fehlen. Obwohl nur ein paar Straßenblocks südlich der Regierungsgebäude an der Plaza de Mayo gelegen, hat ein historisches Verhängnis die Altbauten und Kopfsteinpflaster dieses Viertels von der Modernisierung bewahrt. Hier grassierte in den 1880er Jahren das Gelbfieber, die Reichen nahmen Reißaus und ließen ihre Paläste in Anmut zerbröseln.Seit Jahren zieht San Telmos schäbiger Charme Touristen in Hostels, Restaurants und Tangoshows. Und in diesen Tagen wurden auch einige Lokalgrößen dort gesichtet, etwa Héctor Magnetto, der CEO von Südamerikas zweitgrößtem Medienhaus Clarín, prominente TV-Achormen und auch Marcos Galperín, der (erfolg)reichste Unternehmer des Landes. Der Gründer und CEO des Online-Kaufhauses Mercado Libre wurde trotz Barttarnung von den Reportern erkannt, die seit zehn Tagen vor einem Neubau in der Calle Mexico Palastwache halten. Zu einer unfreiwilligen Pressekonferenz veranlasst, beließ es Galperín bei einer Minimalbotschaft: Es sei immer gut, miteinander zu sprechen.Schon gar nicht in Zeiten wie diesen, wo mir nichts, dir nichts die Macht verdampft. Seitdem die Argentinier bei den Vorwahlen dem aktuellen Präsidenten Mauricio Macri fast 16 % weniger Stimmen schenkten als dessen Herausforderer Alberto Fernández, ist der Regierungspalast an der Plaza de Mayo wenig mehr als eine neobarocke, rosagetünchte Hülle um ein Nichts. Auf das größte anzunehmende Umfragedesaster am 11. August folgte der zweitgrößte Börsenabsturz der Geschichte. Und der verhängnisvolle Veitstanz eines Staatschefs, der die Schuld an dem Schlamassel bei den Wählern suchte und nicht bei sich. Seither hat Argentinien einen Macri ohne Macht, einen Fernández ohne Funktion und einen Kontrolleur ohne Kopf – den seit dem Abgang Cristine Lagardes kommissarisch geführten Internationalen Währungsfonds, der die geplante Anreise seines Kontrollteams erst einmal verschoben hat. Wer regiert? Wer führt Wahlkampf? Wer entscheidet in diesem Vakuum zwischen der Plaza de Mayo und der Calle Mexico?Diese Fragen stellte sich wohl auch der Mercado-Libre-Boss, ehe er nach San Telmo aufbrach, wo Alberto Fernández sein Kampagnenzentrum eingerichtet hat. Nun war Marcos Galperín bis zum Wahltag der erklärte Lieblings-CEO des Präsidenten Macri, der dem Online Marketplace nicht nur mit Worten weiterhalf, sondern auch mit Steuervorteilen. Diese zu erhalten, könnte eine egoistische Motivation des Milliardärs sein, aber wohlmeinende Kommentatoren konstatierten auch Patriotismus. Galperín habe sich angeboten, Brücken zu bauen über den tiefen Spalt, der das Land tief entzweite, noch ehe das explosive Machtvakuum einsetzte.Zehn Wochen muss das Land noch durchhalten, bis es am 27. Oktober bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wirklich über seine Zukunft entscheiden kann. Bis dahin wollten beide Lager eigentlich Kampagnen führen, die Katastrophenszenarien ausmalten für den Fall, dass der jeweilige Gegner gewänne. Doch nun ist das Desaster schon da.Man muss das nicht nur bedauern. Seit Jahren vertiefen die politischen Extreme den tiefen Spalt, der sich in der Medienwelt fortsetzt und so dem Land zwei Realitäten aufzwingt, die beide völlig verzerrt sind. Nun, in einer Situation, wo die Risikoversicherer an der Wall Street die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Staatsbankrotts mit 80 % beziffern, wird jede künftige Regierung mehr Rückhalt brauchen als jene 30 % des Volkes, die sich fest auf jeder Seite des Spaltes eingebuddelt haben. Fernández oder doch noch Macri müssen auch jene 40 % der Argentinier überzeugen, die der dauernden Grabenkämpfe überdrüssig sind, die landesweit Familien und Freundeskreise auseinandergebracht haben.Dafür bietet das aktuelle Machtvakuum offenbar das geeignete Medium. Zweimal haben Macri und Fernández seit dem Wahltag länger telefoniert, das zweite Gespräch vorigen Montag sei, so berichten gut informierte Medien, wesentlich freundlicher und konstruktiver ausgefallen als der Erstkontakt am Donnerstag der Vorwoche. Es ist eben immer gut, miteinander zu sprechen.