GROSSBRITANNIEN VOR DEM EU-REFERENDUM - PRO BREXIT

"Nur in der Antarktis gibt es weniger Wachstum"

Brexit-Befürworter warnen vor Abwärtsentwicklung in Kontinentaleuropa - Unternehmer Bamford und Dyson sprechen sich für Austritt aus

"Nur in der Antarktis gibt es weniger Wachstum"

Von Andreas Hippin, LondonNachdem die britische Regierung ihr Pulver weitgehend verschossen hat, legen die Befürworter eines Ausstiegs aus der EU erst richtig los. Hauptthema ihrer Kampagne ist die unkontrollierbare Zuwanderung aus der EU. Zudem warnen sie davor, dass es in der Eurozone weiter bergab gehen wird. Ein Votum für den Verbleib könne den Erhalt des Bestehenden nicht garantieren.Das Thema Zuwanderung hat das Potenzial, zum entscheidenden Faktor der Volksabstimmung am 23. Juni zu werden. Großbritannien übt auf Arbeitssuchende aus süd- und osteuropäischen Staaten angesichts der Situation in ihren Herkunftsländern große Anziehungskraft aus. Die britische Bevölkerung wächst durch Zuwanderung pro Jahr um mehr als 300 000 Menschen, was einer Stadt der Größe von Nottingham oder Coventry entspricht. Das ist ein Vielfaches der Werte aus den Zeiten, in denen sich die Bewohner der ehemaligen Kolonien auf den Weg ins Mutterland machten. Betrachtet man allein die EU-Bürger, geht es um eine Stadt der Größe von Oxford oder Canterbury. Von einer Krise kann da im Grunde keine Rede sein, allerdings wird die ohnehin unterfinanzierte Infrastruktur noch mehr belastet und treibt in den klassischen Zuwanderervierteln Mieten und Häuserpreise nach oben. Zudem geraten im Niedriglohnbereich die Einkommen unter Druck.Die Schwäche der “Bremainians” besteht darin, dass sie keine Antwort auf die Frage haben, wie sie diesen Zustrom in den Griff bekommen wollen. Vote Leave fordert ein Punktesystem wie in Australien, das sicherstellen soll, dass Großbritannien besser steuern kann, wer ins Land kommt. Wer ein Gesundheitssystem wie das britische NHS betreibt, das nicht auf Beitragszahlungen, sondern auf dem Wohnort basiert, wer bedarfsgerecht Plätze in Kindergärten und Schulen oder im öffentlichen Personennahverkehr anbieten will, braucht Planungssicherheit. Beschränkungen des freien Personenverkehrs gelten innerhalb der EU aber als nicht verhandelbar. Das “diskriminierende” Ausländerrecht, das EU-Bürger bevorzugt, verschafft den “Brexiteers” auch Zulauf aus den Reihen der Migranten, die aus Commonwealth-Staaten ins Vereinigte Königreich gekommen sind. Wer den Verfechtern eines Austritts Rassismus oder nationale Kleingeistigkeit vorhält, greift zu kurz. Es geht um harte wirtschaftliche Argumente. Vielen geht es um mehr Offenheit zum Rest der Welt, nicht nur in Richtung Europa. Wie man in der “Festung Europa” mit Zuwanderung umgehe, zeige sich daran, dass täglich Menschen auf dem Weg dorthin im Mittelmeer ertrinken, sagte jüngst ein Jugendlicher in einer der zahllosen Fernsehdebatten zum Thema Brexit. Die moralische Lufthoheit haben die EU-Befürworter bei einer ihrer wichtigsten Zielgruppen offenbar verloren. Umstrittene ZahlenWeiteren Auftrieb verschaffte den Austrittsbefürwortern, dass sich das Statistikamt ONS vor kurzem gezwungen sah, die großen Differenzen zwischen seinen Zuwanderungsdaten und der Zahl der in der Sozialversicherung registrierten EU-Ausländer zu erklären. Das Massenblatt “The Sun”, das mittlerweile klar Position gegen Brüssel bezogen hat, unterstellte der Regierung, die Bevölkerung mit geschönten Zahlen hinters Licht zu führen und gab seinen Lesern mittlerweile die Empfehlung, für den Austritt zu stimmen. Seine Daten ließen “kurzfristige” Zuwanderung unberücksichtigt – also Menschen, die angeben, sich weniger als ein Jahr in Großbritannien aufhalten zu wollen – hieß es aus dem ONS. Rechnet man sie jedoch hinzu, sind in den vergangenen Jahren mehr als 1 Million EU-Bürger mehr zugewandert als angegeben. Unterdessen sorgen Berichte über organisierte Banden für Aufsehen, die Flüchtlinge illegal über den Ärmelkanal bringen.Mit ihren wirtschaftlichen Argumenten gingen die Gegner Brüssels erst an den Start, nachdem die Remain-Kampagne ihr Pulver weitgehend verschossen hatte. Nun können sich Bank of England und Schatzamt nicht mehr äußern, um keinen unbotmäßigen Einfluss auf den Ausgang der Abstimmung zu nehmen. “Nur in der Antarktis gibt es weniger wirtschaftliches Wachstum als in der Eurozone”, sagt Boris Johnson, der ehemalige Bürgermeister von London, der sich an die Spitze von Vote Leave gesetzt hat. Die Wähler sollten nicht davon ausgehen, dass eine Stimme für den Verbleib einer Stimme für den Status quo gleichkomme. In Kontinentaleuropa werde sich die Lage weiter verschlechtern, Großbritannien werde im Falle eines Fortbestands der EU-Mitgliedschaft unweigerlich zur Finanzierung weiterer Bail-outs herangezogen. “Wenn Sie jetzt nicht für einen Beitritt wären, sollten Sie auch nicht für den Verbleib stimmen”, sagt die deutschstämmige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart, die seit 1997 den Wahlkreis Birmingham Edgbaston im Unterhaus vertritt. In den Commonwealth-Staaten leben mehr als 2 Milliarden Menschen, lautet in der Regel die Antwort auf die Frage, ob man den Zugang zum gemeinsamen Markt mit seinen 500 Millionen Menschen einfach so aufgeben wolle. Zudem wiesen deren Volkswirtschaften in den allermeisten Fällen mehr Wachstum auf als die Staaten der EU.”Wir brauchen die Kooperation Brüssels nicht, wenn wir reinen Freihandel betreiben wollen”, sagt etwa der ehemalige Wirtschaftsweise Patrick Minford. “Uns ist wirklich egal, ob die EU diesen oder jenen Zoll erhebt. Diese Zölle sorgen am Ende nur dafür, dass es für die Verbraucher innerhalb der EU teurer wird. Das ist deren Problem. Wir betreiben einfach globalen Freihandel zu Weltmarktpreisen. Das ist besser, als Teil einer protektionistischen Zollunion zu sein.” Der ehemalige Handelsminister David Young wies darauf hin, dass die Verhandlungen über ein Handelsabkommen der EU mit den Mercosur-Staaten von Frankreich und anderen europäischen Ländern aufgehalten würden, die Angst vor billigem Rindfleisch und anderen Agrarimporten hätten. Nach einem Austritt könne Großbritannien seine eigenen Vereinbarungen treffen.Aus Sicht der “Economists for Brexit” würden die Löhne nach einem Austritt steigen, die Verbraucherpreise sinken und die Wirtschaft langfristig gesehen stärker wachsen. “Innerhalb der Union zahlen die Verbraucher höhere Preise”, sagt Minford, der zu den Gründern zählt. Als Beispiele nennen die Ökonomen unter anderem Lebensmittel, aber auch Autos oder Möbel. Während von der Confederation of British Industry über die Industrieländerorganisation OECD bis hin zum Schatzamt sämtliche etablierten Institutionen für den Fall eines Brexit mit einer zum Teil erheblichen Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts rechnen, haben die EU-kritischen Volkswirte eine Expansion um bis zu 4 % für die kommenden 10 bis 15 Jahre angesetzt. Zu ihnen gehört neben Minford, der inzwischen an der Universität von Cardiff lehrt, auch Gerald Lyons, der mehr als ein Vierteljahrhundert als Bankvolkswirt in der City of London verbrachte, bevor er Chief Economic Adviser von Boris Johnson wurde. Handel ohne MitgliedschaftNachdem sich in erster Linie Unternehmen wie Airbus und Rolls-Royce, die sich für den Verbleib in der Staatengemeinschaft starkmachen, an ihre Mitarbeiter wandten, legte Anthony Bamford, Chairman des britischen Baumaschinenherstellers J. C. Bamford Excavators (JCB, Umsatz: 2,5 Mrd. Pfund), in einem Schreiben an Beschäftigte und Pensionäre dar, warum er für den Austritt votieren wird. “Ich habe nicht für eine politische Union gestimmt”, schrieb der konservative Parteispender, dessen Firma zu den größten Unternehmen der britischen Exportwirtschaft gehört. “Ich habe nicht erwartet, dass wir Souveränität an die EU abgeben. Ich habe mit Sicherheit nicht erwartet, dass wir von Führern in Brüssel regiert werden, die uns nicht rechenschaftspflichtig sind.” Eines sei sicher: Seine Firma werde weiter mit Europa Handel treiben, egal ob Großbritannien in der EU bleibe oder nicht. “Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir auf unseren eigenen zwei Beinen stehen können”, schrieb Bamford. Das Vereinigte Königreich sei eine Handelsnation und die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. “Ich glaube, dass JCB und Großbritannien jenseits der EU genau so stark prosperieren werden, es gibt also wenig zu fürchten, wenn wir uns für den Austritt entscheiden.”Auch der Vorzeigeunternehmer James Dyson sprach sich für den Austritt aus. Der von ihm erfundene Staubsauger, der ohne Beutel auskommt, gilt nach Concorde und Hovercraft als Musterbeispiel britischer Ingenieurskunst. Die Argumente der Regierung in Sachen Handel seien “völliger Unsinn”, sagte Dyson.