Geldpolitik

Ökonomen über die EZB-Strategie­ausrichtung

Am 18. und 19. Juni trifft sich die EZB um über die künftige Strategie der Zentralbank zu beraten. Dabei wird es unter anderem darum gehen, inwieweit Klimapolitik eine Rolle spielen soll. Fünf Ökonominnen und Ökonomen äußern sich zu dieser und anderen Fragen.

Ökonomen über die EZB-Strategie­ausrichtung

Es zeichnet sich ab, dass die EZB ihr Inflationsziel von mittelfristig „unter, aber nahe 2%“ auf glatt 2% ändert, mit einer klaren Symmetrie. Wie schätzen Sie das ein? Sollte die EZB zudem wie die US-Notenbank Fed anstreben, Zielverfehlungen der Vergangenheit in der Zukunft auszugleichen?

Lorenzo Bini Smaghi, Chairman Société Générale Ex-EZB-Direktoriumsmitglied:

Das ist eine willkommene Entwicklung. Es gäbe dann eine klare Zahl statt eines vagen Konzepts wie „unter, aber nahe“ – was die Leute nur dazu bringt, sich zu fragen: Ist 1% nahe genug? Wie wäre es mit 1,5%? Auch die Symmetrie ist will­kommen. Andererseits denke ich nicht, dass die EZB zu einer Preisniveausteu­erung übergehen sollte wie die Fed, da dies ziemlich verwirrend und schwierig umzusetzen wäre. Vergangenes ist vergangen.

Elga Bartsch, Chefvolkswirtin Blackrock:

Ein eindeutiges symmetrisches Inflationsziel als Definition der Preisstabilität wäre sehr zu begrüßen. In welcher Höhe die Zielmarke liegen sollte, ist letztlich eine empirische Frage. Eine mittelfristige Ausrichtung der Geldpolitik, die auch die Zielverfehlungen der Vergangenheit miteinbezieht, wäre ebenfalls zu begrüßen. Allein werden diese Schritte aber nicht ausreichen, um die Preisstabilität in Europa nachhaltig zu sichern.

Guntram Wolff, Direktor Bruegel:

Die Formulierung „unter, aber nahe 2%” ist ein Kommunikationsproblem. Obwohl es symmetrisch um das Ziel von rund 1,8% operationalisiert wird bzw. werden kann, interpretieren es die Finanzmärkte asymmetrisch: Sollte die Inflation über dem Ziel liegen, würde die EZB sofort handeln, darunter aber nicht. Es wäre gut, wenn diese Ambiguität abgeschafft würde. Der Vorteil des „Average Inflation Targeting“ gegenüber einer mittelfris­tigen Orientierung ist weniger klar.

Lucrezia Reichlin, Wirtschaftsprofessorin London Business School:

Ein klarer numerischer Wert und Symme­trie sind ein Fortschritt, da sie die Un­sicher­heit über die Toleranz bei niedriger Inflation und die Verzerrung in Richtung Inflation beseitigen. Die EZB sollte aber weitergehen und eine gut definierte „Nachholstrategie“ für den Umgang mit zu niedriger Inflation annehmen. Das würde sicherstellen, dass die durch­schnittliche Inflation mit dem erklärten Inflationsziel übereinstimmt. Das würde zur festen Verankerung der langfristigen Inflationserwartungen beitragen.

Otmar Issing, Präsident Center for Financial Studies Ex-EZB-Chefvolkswirt:

Die Definition von Preisstabilität als ein durchschnittlicher Anstieg der jährlichen Inflationsrate von unter 2% ist vor dem Hintergrund der besonderen Probleme beim Start des Euro zu sehen. Eine Entscheidung für ein Ziel von 2% halte ich für überfällig. Auf keinen Fall sollte die EZB dem „Average Inflation Targeting“ der Fed folgen.

Welche Lehren sollte die EZB aus den vergangenen Jahren mit Blick auf ihr Instrumen­tarium ziehen? Sind Null- und Negativzinsen sowie breite Anleihekäufe die „neue Normalität“?

Lorenzo Bini Smaghi:

Die wichtigste Lektion ist, dass negative Zinssätze zwar eine vorübergehende expansive Wirkung haben können, aber keine dauerhafte, und dass sie mit der Zeit sogar kontraproduktiv sein können. Die EZB hat 2014 die Zinssätze in den negativen Bereich gesenkt in der Hoff­nung, dass sie dadurch eine quantitative Lockerung vermeiden könnte. Das tat sie nicht. Es wäre besser gewesen, das Wertpapierankaufprogramm zu haben, ohne negative Zinsen zu haben.

Elga Bartsch:

Null- oder Negativzinsen, immer breiter angelegte Anleiheankäufe und zuletzt auch subventionierte Zinsen für kredit­vergebende Banken bleiben so lange die geldpolitische Normalität in der Euro­zone, wie die Fiskalpolitik die EZB bei der makroökonomischen Stabilisierung nur unzureichend unterstützt. Diesen Aspekt der Überfrachtung der Geldpolitik sollte die EZB noch stärker betonen und somit die Fiskalpolitik zukünftig mehr in die Pflicht nehmen.

Guntram Wolff:

In vielerlei Hinsicht hat die EZB jetzt ein normales Instrumentarium. Anleihenkäufe gehören zu den notwendigen Instrumenten für eine Zentralbank in einem Niedrigzinsumfeld. Wahrschein­lich hat die EZB aber zu stark auf nega­tive Zinsen gesetzt, um weniger Anleihen zu kaufen. Der Staatsanleihenkauf bleibt in der Eurozone politisch schwierig, da es 19 verschiedene Emittenten gibt. Der EU-Corona-Wiederaufbaufonds erleichtert die Situation.

Lucrezia Reichlin:

Die EZB hat mehrere Neuerungen in ihrem Handlungsrahmen eingeführt. Nach 15 Jahren ist es wichtig zu sagen, dass dies die neue Normalität ist, und das auch in angemessener Weise einheitlich zu kommunizieren. Dies impliziert eine Klärung des Konzepts, das die EZB zunehmend verwendet, um die finanziellen Bedingungen über eine Vielzahl von Instrumenten zu steuern.

Otmar Issing:

Die sogenannten unorthodoxen geldpolitischen Maßnahmen sind der besonderen Situation nach der Finanzmarktkrise geschuldet. Später spielte dann auch der pandemiebedingte wirtschaftliche Einbruch eine Rolle. Mit der Normalisierung der wirtschaftlichen Lage entfällt auch der Grund für den Einsatz dieser Maßnahmen.

Sollte die EZB künftig ihr Mandat breiter interpretieren und neben dem primären Mandat Preisstabilität stärker sekundäre (EU-)Ziele wie Vollbeschäftigung oder ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum berücksichtigen?

Lorenzo Bini Smaghi:

Sekundäre Ziele sind sekundäre Ziele, die „vorbehaltlich der Erreichung der Preis­stabilität“ verfolgt werden sollten. Möglicherweise muss geklärt werden, was diese sekundären Ziele sein sollen, da sonst die Gefahr besteht, dass die Zen­tral­bank überfordert wird. Dies sollte jedoch nicht in der Verantwortung der EZB, sondern des Europäischen Rates liegen.

Elga Bartsch:

Die Ausrichtung der EZB-Geldpolitik sollte sich weiterhin vorrangig am Mandat der Preisstabilität ausrichten. Nur wenn diese nachhaltig gesichert erscheint, könnte sich die EZB sekundä­ren Zielen zuwenden. Welche dies, neben der Überwachung der Finanzstabilität im Euroraum, konkret wären, bestimmt aber letztendlich die Politik der Europäischen Union, nicht die EZB. Die EZB entscheidet nur, ob und wie sie hier einen Beitrag leisten kann.

Guntram Wolff:

Die EU-Verträge sind eindeutig: Die EZB hat ein primäres Mandat, nämlich Preisstabilität. Wenn dieses Ziel erfüllt ist, soll sie die anderen Ziele der Union unterstützen (Art. 127). Die Union hat aber viele politische Ziele. Welche anderen Ziele sollte die EZB primär unterstützen, wenn es keine Risiken für die Preisstabilität gibt? Das kann nicht der Gouverneursrat entscheiden. Eine stärkere Rolle des Europäischen Parlaments wäre da nötig.

Lucrezia Reichlin:

Nötig ist ein politischer Rahmen, der es erlaubt, primäre und sekundäre Ziele innerhalb eines kohärenten gedank­lichen Rahmens zu diskutieren. Zum Beispiel, indem man Preisstabilität als primäres Ziel angibt, aber den sekundä­ren Zielen erlaubt, den Zeithorizont zu beeinflussen, über den die Inflation wieder auf das Zielniveau gebracht wird. Solange die Inflation im Durchschnitt auf dem Zielwert liegt, bleibt die primäre Rolle des Preisstabilitätsziels intakt.

Otmar Issing:

Das Mandat der EZB ist durch einen völkerrechtlichen Vertrag festgelegt und steht nicht zur Disposition der EZB. Es ist nicht zulässig, den Vorrang der Preisstabilität durch andere Ziele zu relativieren. Beschäftigung und Wirtschaftswachstum spielten von Anfang an eine wichtige Rolle bei den geldpolitischen Entscheidungen.

Was kann und sollte die EZB konkret tun, um zum Kampf gegen den Klimawandel beizutragen? Was halten Sie vom Vorschlag, bei den geldpolitischen Käufen von Unternehmensanleihen „grüne Kriterien“ anzulegen und notfalls die Laufzeiten oder Menge „brauner“ Anleihen zu begrenzen?

Lorenzo Bini Smaghi:

Auch der Vorschlag, grüne Kriterien anzuwenden, sollte darauf basieren, dass mehr Klarheit über die sekundären Ziele geschaffen wird, zu denen der Klimawandel, aber auch Wachstum und Beschäftigung gehören können. Ich bin mir nicht sicher, ob es in der Verantwortung der EZB liegt, den Kompromiss zwischen diesen verschiedenen sekundären Kriterien festzulegen und zu entscheiden, welches Kriterium Vorrang haben soll.

Elga Bartsch:

Die EZB sollte die mit dem Klimawandel verbundenen Finanzrisiken berücksichtigen. Die Klimakrise und der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft sind für langfristige Anlagen von hoher Bedeutung. Entscheidend ist, die Transpa­renz hinsichtlich der Klimawirkungen zu erhöhen. Klar ist auch, dass die Geldpolitik fehlende Klimaschutzmaßnahmen anderer Politikbereiche nicht ersetzen kann. Die EZB sollte nicht dazu beitragen, den CO2-Status-quo zu zementieren.

Guntram Wolff:

Der Klimawandel ist neben dem Risiko von Pandemien die größte Herausfor­de­rung für die Menschheit. Die EZB muss die Auswirkungen des Klimawandels auf Inflation, wirtschaftliche Entwicklungen und Finanzstabilität sehr ernst nehmen. In der Bankenaufsicht sollten solche Risiken z. B. eine große Rolle spielen. Das Portfolio von Anleihenkäufen aber gegen den Markt zu verändern, sollte nur mit explizitem politischem Mandat gesche­hen. Das müsste die Politik absegnen.

Lucrezia Reichlin:

Die EZB sollte, wie andere Marktteilnehmer auch, berücksichtigen, dass Klimarisiken nicht vollständig internalisiert sind und dies zu Risiken und Fehlallokationen führt. In dieser Situation ist Marktneutralität verzerrend. Beim Ankauf von Vermögenswerten, bei der Sicherheitenpolitik und bei Kreditge­schäften muss die EZB die Risiken genau­so bewerten, wie sie es von den privaten Banken verlangt. Natürlich gibt es Zielkonflikte, die bewertet werden müssen.

Otmar Issing:

Die Möglichkeiten der EZB, zur Bekämpfung des Klimawandels beizutragen, sind eng begrenzt. Daran sollte die Notenbank keinen Zweifel aufkommen lassen. Verspricht sie mehr, als sie halten kann, gefährdet sie ihr Ansehen. Eine Präferenz für den Ankauf „grüner“ Anleihen erfordert schwierige Wertungen.

Wie sehen Sie perspektivisch die Interaktion zwischen Geld- und Fiskalpolitik im Euroraum? Sollte die EZB explizit zum „lender of last resort“, also zum Kreditgeber der letzten Instanz, auch für die Euro-Staaten werden?

Lorenzo Bini Smaghi:

Vor der Krise war der Policy-Mix unausgewogen: Die Fiskalpolitik war zu straff, vor allem in Ländern mit Handlungsspielraum, während die Geldpolitik zu lasch war. Ein großer Teil des Problems wurde durch die übermäßige Haushaltsbeschränkung verursacht, die Deutschland durch seine verfassungsmäßige Regelung auferlegt wurde und die zu einer starken Reduzierung des Bestands an deutschen Bundesanleihen führte. Kein Wunder, dass die Renditen der Bundesanleihen zum Ärger der deutschen Sparer negativ wurden.

Elga Bartsch:

Die EZB sollte deutlich machen, dass in bestimmten Situationen, etwa wenn die Leitzinsen bereits an der effektiven Unter­grenze liegen und trotz ambitionierter Ankaufprogramme und subven­tionierter Zinsen für kreditvergebende Banken Preisstabilität nicht gewähr­leistet werden kann, mehr Unterstützung der Fiskalpolitik gefragt ist. Dieser Aspekt sollte bei der anstehenden Überprüfung der fiskalpolitischen Regeln im Euroraum nicht übersehen werden.

Guntram Wolff:

Die alte Arbeitsteilung, dass die Geldpolitik sich um den Zyklus der Eurozone kümmert, während Fiskalpolitik vor allem nationale Zyklen stabilisiert, funktioniert nicht mehr im Niedrigzinsumfeld, in dem die Geldpolitik weniger effektiv ist. Wir brauchen eine aktivere Fiskalpolitik, und gerade die großen Länder müssen die Auswirkungen ihrer Haushaltspolitik auf die gesamte Eurozone berücksichtigen. Diese Koordinierung wird schwierig bleiben. Solange die Eurogruppe bzw. der ESM ein Land für solvent hält, sollte die EZB weiter „lender of last resort“ sein.

Lucrezia Reichlin:

Die wirtschaftspolitische Steuerung des Euroraums würde von einem Instrument zur Koordinierung des geld- und fiskal­politischen Kurses als Reaktion auf Krisen profitieren. Dies könnte ein Gremium sein, das die Zentralbankgouverneure und die Finanzminister umfasst und das Mandat hat, sich über den allgemeinen Kurs der Union abzustimmen.

Otmar Issing:

Die Interaktion zwischen Geld- und Finanzpolitik ändert sich mit den wirtschaftlichen Bedingungen. In der Pandemie schlug die Stunde der Finanzpolitik für gezielte und temporäre Hilfen. Die Übernahme der Rolle des „lender of last resort“ für Staatsanleihen würde die Schleusen für exzessive Staatsverschuldung öffnen.