NOTIERT IN WASHINGTON

Offenes Rennen um die US-Präsidentschaft

In drei Monaten werden Wähler in Iowa beim traditionellen "Caucus" formal den Startschuss geben zum Rennen um die Nachfolge von US-Präsident Barack Obama. Noch nie war der Wettbewerb so offen und der Ausgang so ungewiss. Senkrechtstarter Donald...

Offenes Rennen um die US-Präsidentschaft

In drei Monaten werden Wähler in Iowa beim traditionellen “Caucus” formal den Startschuss geben zum Rennen um die Nachfolge von US-Präsident Barack Obama. Noch nie war der Wettbewerb so offen und der Ausgang so ungewiss. Senkrechtstarter Donald Trump, der langsam auf den Boden der Realität zurückzukehren scheint, hat alle bisherigen politischen Weisheiten auf den Kopf gestellt. Die erwarteten Favoriten wie Hillary Clinton und Jeb Bush, die bevorzugten Kandidaten des demokratischen und republikanischen Establishments, sind ins Wanken gekommen.Politische Neulinge, die sich auf ganz anderen Gebieten einen Namen gemacht haben, machen ihnen den Platz streitig. Während der ersten Monate eines Wahlmarathons zählen zu den Favoriten Personen wie Carly Fiorina und der Arzt Ben Carson, dies trotz ihres Mangels an Erfahrung im politischen Geschäft. Oder vielleicht gerade deswegen. Denn die Politikverdrossenheit der Amerikaner ist so ausgeprägt wie noch nie.Im Vorfeld des mit Spannung erwarteten Wahljahrs ist die Stimmung in Amerika von Widersprüchen geprägt. Auf der einen Seite wächst die Wirtschaft, und der Arbeitsmarkt scheint sich weiter zu erholen. Der Bürgerkrieg in Syrien und die Flüchtlingskrise in Europa tangieren die Amerikaner kaum, und die ständige Angst vor neuen Terroranschlägen hält sich in Grenzen. Dennoch liegt eine diffuse Unruhe in der Luft.Und glücklich sind die Wähler auch nicht. Die Einkommen stagnieren, als Folge von Obamacare sind für Millionen von Arbeitnehmern die Krankenversicherungsprämien deutlich gestiegen und die Zukunft der faktisch insolventen gesetzlichen Sozialversicherung beunruhigt viele angehende Rentner. Kritisch wird zudem das Unvermögen des Weißen Hauses und des Kongresses verfolgt, konstruktiv zusammenzuarbeiten und Gesetze zu verabschieden. Nur jeder achte US-Bürger gibt den Parlamentariern gute Noten, und auch Obama sinkt wieder in der Wählergunst.Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass ein nassforscher Paradiesvogel wie Trump auf große Zustimmung stößt. Der Milliardär beschimpft Politiker, die abgesehen von ihm alle im Dienst ihrer Spender und Industrielobbyisten agieren, als korrupt. Wie jeder, der vergeblich einen Job suche, wisse, sei die Arbeitslosenquote “eine große Lüge”, eine statistische Manipulation, mit der Politiker die Wahrheit zu beschönigen versuchten, sagt er. Der republikanische Kandidat spricht hier vielen Landsleuten aus der Seele.Wie aus den jüngsten “Power Rankings” hervorgeht, welche die Einschätzung führender politischer Analysten abbilden sollen, haben die verbalen Entgleisungen und die Egomanie Trumps Sympathien gekostet. Demnach ist die neue Favoritin bei den Republikanern die frühere Hewlett-Packard-Chefin Carly Fiorina, gefolgt von Senator Marco Rubio, der Trump mittlerweile auf den dritten Platz verwiesen hat.Auch Fiorina ist eine Establishment-Außenseiterin, die kein Blatt vor den Mund nimmt, aber noch Probleme bekommen könnte wegen ihrer unrühmlichen Vergangenheit. Rubio mag zwar ein Karrierepolitiker sein. Doch Außenseiter ist er schon wegen seiner Herkunft und seiner Jugend. Der konservative Senator aus Florida, ein Sohn von Exilkubanern, wäre der erste hispanischstämmige Präsident in der Geschichte. Dass ein Latino den Chefsessel im Weißen Haus erobert, ehe die erste Frau gewählt wird, hätte selbst nach Obamas historischem Sieg kaum jemand für möglich gehalten. Dass er aber einerseits konservative Werte vertritt und zugleich einer Minderheit angehört, die einen stark wachsenden Anteil an der Wählerschaft ausmacht, könnte dem 44-Jährigen zum Vorteil gereichen.Dagegen verblassen die bisherigen Favoriten Clinton und Bush. Hillary Clinton hat weiterhin mit den Folgen ihres peinlichen E-Mail-Skandals zu kämpfen. Vom jüngeren Bruder des Ex-Präsidenten gewinnt man schlichtweg den Eindruck, er sei weniger aus Überzeugung, sondern vielmehr aus Pflichtgefühl gegenüber seiner Familie und Partei als Kandidat angetreten. In der Endabrechnung ist nicht auszuschließen, dass die beiden Spitzenkandidaten tatsächlich wieder Clinton und Bush heißen werden – doch bis dahin ist es noch ein langer, beschwerlicher Weg.