Ohne den Krieg ginge es der Ukraine wirtschaftlich nicht viel besser

Über Produktionsprobleme durch unklare Rahmenbedingungen im Osten - Warum die Oligarchisierung des Landes die Prosperität hemmt

Ohne den Krieg ginge es der Ukraine wirtschaftlich nicht viel besser

Von Eduard Steiner, MoskauDie Unruhen in der Ostukraine haben das ganze Land in eine tiefe Rezession gestürzt. Wegen des Gasstreits mit Russland gibt es zudem keine Versorgungssicherheit mit Gas und Strom mehr. Und wegen der Kämpfe zuvor und dem gegenwärtigen löchrigen Waffenstillstand mussten viele Unternehmen ihren Betrieb stilllegen. Im August ging die Industrieproduktion um ein ganzes Fünftel zurück, nachdem die Koksfabrik Avdejevskij, welche die Stahlwerke im gesamten Donbass beliefert, die Produktion gestoppt hatte.Produktionsausfälle gehören zu den direktesten Folgen der Kriegshandlungen in der Gegend. Schon im zweiten Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt im Jahresvergleich um 4,6 %. Für das dritte Quartal und die gesamte zweite Jahreshälfte sehen die Prognosen noch deutlich schlechter aus. Die Weltbank, die für nächstes Jahr wieder einen Aufschwung erwartet, hat ihre Prognose für 2014 gesenkt und rechnet nun mit einer Schrumpfung von 8 % statt der vorher erwarteten 5 %. Der Internationale Währungsfonds (IWF) setzt für 2014 ein Minus von 6,5 % an. Morgan Stanley vermutet eine Schrumpfung um 7,3 %, das Kiewer Wirtschaftsinstitut Case eine um 7,4 %. Das ist zwar weit von den 14,8 % entfernt, um die das ukrainische Bruttoinlandsprodukt im Krisenjahr 2009 eingebrochen war. Aber wie schon damals wäre das Land auch dieses Mal in der Staatspleite gelandet, würde der IWF nicht einen Stand-by-Kredit über 17 Mrd. Dollar für zwei Jahre bereitstellen. Über eine Ausweitung des Programms wird bereits nachgedacht. Orientierung nach WestenDen Einfluss des Krieges in einem Landesteil auf die Wirtschaft im gesamten Land zu messen ist ein mühsames Unterfangen. Faktum ist, dass neben Produktionsstilllegungen der – teils schon im Vorjahr verhängte – russische Importstopp für einzelne Produkte genauso zu Buche schlägt wie die ukrainische Reaktion, etwa den bedeutsamen Rüstungsexport nach Russland einzufrieren. Hinzu kommt, dass der Export von Metallerzeugnissen über den Hafen Mariupol eingeschränkt ist.Bisher war augenscheinlichster Ausdruck der geografischen Mittellage der Ukraine gewesen, dass das Land etwa gleich viel mit Russland wie mit der EU handelte. Im ersten Halbjahr 2014 jedoch brach der Export nach Russland laut ukrainischem Statistikamt Ukrstat um 23,1 % ein. Neben der Agrar- und Lebensmittelindustrie sind vor allem Stahlproduzenten und Maschinenbauer betroffen. So fiel der Export von Eisenbahnwaggons nach Russland zwischen Mai und Juni um 60 %.Dank der von der EU Ende April verfügten Zollerleichterung für alle ukrainischen Agrarprodukte und 95 % der Industrieerzeugnisse hat die Ukraine die Exporteinbußen in Russland fast ganz kompensieren können. Zwischen Mai und Juni stieg der Export in die EU um 25 %. Nicht nur die Handelserleichterungen seien dafür verantwortlich gewesen, heißt es in einem EU-Bericht: Auch die Abwertung der ukrainischen Währung Hrywnja seit Jahresbeginn (um 40 % gegenüber dem Dollar und um ein Drittel gegenüber dem Euro) und mehr Nachfrage in Europa hätten dazu beigetragen. Unterm Strich fiel daher der Rückgang des gesamtukrainischen Exports mit 8,2 % sanfter aus, als erwartet worden war.Weil der Import konjunktur- und währungsbedingt sogar noch stärker fiel, war die Leistungsbilanz zuletzt fast ausgeglichen. Auch die Gold- und Währungsreserven von nur 18 Mrd. Dollar stellen kein Problem dar, decken sie den Import doch für drei Monate. Die Auslandsverschuldung stieg wegen der Währungsabwertung freilich an, wobei die gesamten Staatsschulden mit gut 60 % des BIP “zwar schlecht, aber nicht kritisch” seien, wie Case-Chef Wladimir Dubrowskyj erklärt.Krieg und brüchiger Friede lasten über der Ukraine wie eine dunkle Wolke. Firmen gehen weg, und neue Investoren lassen auf sich warten. Dennoch bleibt die Frage, wie es der Ukraine ohne Krieg erginge.Besser, aber alles andere als gut, lautet der Befund der Experten. Das BIP fällt ja bereits seit zwei Jahren. Aber auch mit der Abdankung von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch im Februar habe der Aufbruch, wie er nach der Orangenen Revolution 2004 eingesetzt hatte, nicht stattgefunden, erklärt Dubrowskyj: 2005 hätten sich alle Oligarchen gefürchtet und auf neue Regeln eingestellt, jetzt aber finde höchstens eine Besitzumverteilung zwischen ihnen statt. In den Ämtern seien zwar teilweise die Chefs ausgetauscht worden, die Beamten selbst aber seien geblieben und führten ihr marktwirtschaftsfeindliches Treiben fort. “Und unsere Gesellschaft ist wie gewöhnlich zu keinen Reformen bereit.”Jaroslaw Romantschuk, Ukraine-Experte und Chef des Minsker Wirtschaftsinstituts Mises, beschreibt es so: “Die ukrainischen Machthaber paralysieren wie jeher die Mechanismen des Eigentumschutzes und dulden eine Schattenwirtschaft, die mehr als 50 % der Wirtschaft umfasst.” Es sei absurd zu glauben, dass der Weg, der zu Oligarchenclans und zur Auflösung von Konkurrenz geführt habe, nun der Ausweg aus der Sackgasse sein soll. Alte Clanchefs und neue Machthaber stünden wieder in einer Allianz. Und die allseits bekundete “Nulltoleranz gegenüber der Korruption” sei nur deklaratorisch. Fehler des IWFHier setzt Case-Chef Dubrowskyj auch mit seiner Kritik am IWF an. Dieser habe bei der Kreditvergabe zu sehr auf relativ leicht umsetzbaren Bedingungen wie der Verringerung des Budgetdefizits und der Erhöhung der Kommunalabgaben bestanden. Für die Korruptionsbekämpfung seien aber nur lächerliche 173 Mill. Euro veranschlagt worden, obwohl allein unter Janukowitsch an die 8 Mrd. Euro aus dem Budget gestohlen worden seien.