GASTBEITRAG

Politische Gefährdung wird zum Dauerthema

Börsen-Zeitung, 21.4.2017 Das Verfassungsreferendum in der Türkei setzt die Reihe von grundlegenden politischen Weichenstellungen fort, die mit wesentlichen Entwicklungslinien der vergangenen Dekaden brechen und deren Auswirkungen auf die...

Politische Gefährdung wird zum Dauerthema

Das Verfassungsreferendum in der Türkei setzt die Reihe von grundlegenden politischen Weichenstellungen fort, die mit wesentlichen Entwicklungslinien der vergangenen Dekaden brechen und deren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft nicht abzusehen sind. Die vergangenen Jahrzehnte waren aus ökonomischer Sicht von einer großen internationalen Kooperationsbereitschaft gekennzeichnet. Es herrschte ein Geist von Offenheit und Integrationsbereitschaft zwischen den Nationalstaaten, der fast die gesamte Weltwirtschaft zu einer gemeinsamen Fabrikhalle und einem gemeinsamen Marktplatz für Dienstleistungen und Güter gemacht hatte.Mittlerweile führt die zunehmende Globalisierungskritik in vielen Staaten indes zu einem Aufleben des Nationalismus, der auch vor den Wirtschaftsbeziehungen nicht Halt macht. In Europa findet diese Debatte vor der Kulisse des europäischen Binnenmarktes statt. Diese einzigartige Institution hat durch eine Vergemeinschaftung der Handelspolitik und wesentlicher Teile der Wirtschaftsregulierung unter dem Dach der Europäischen Union einen der größten Binnenmärkte der Welt entstehen lassen, der jedem Teilnehmer die externen und internen Vorteile eines großen Marktes beschert. Neues ZeitalterDie Entscheidung zum Brexit im Vereinigten Königreich, die merkantilistischen Töne der neuen US-Regierung und ähnliche Argumentationen in den politischen Debatten westlicher Industrieländer ergeben den Eindruck, dass ein Zeitalter neuer Rahmenbedingungen für die Weltwirtschaft angebrochen sein könnte.Das nächste politische Großereignis stellt die Entscheidung über das Präsidentschaftsamt in Frankreich dar, das – je nach Grad der politischen Besorgtheit – vereinzelt schon zur Schicksalswahl für Europa stilisiert wird. Unabhängig vom Ausgang dieser Wahl spricht einiges für einen grundlegenden politischen Wandel in den Industrieländern, dessen Auswirkungen in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten mangels Einschätzbarkeit noch weitgehend ignoriert werden.Politische Risiken werden an den Finanzmärkten traditionell aufmerksam beobachtet. Bislang zielten entsprechende Modelle jedoch hauptsächlich auf die Entwicklung der Rahmenbedingungen in Schwellenländern, wo die politische, fiskalische und monetäre Stabilität der Volkswirtschaften im Vordergrund steht. Die Abwicklung bestehender internationaler Strukturen ist in diesem Zusammenhang ein neues Thema. Eine Quantifizierung dieser Risiken außerhalb von Marktindikatoren ist noch wenig verbreitet.Der Deka Politikrisiko Indikator (DePRI) zielt darauf ab, länderweise die politische Gefährdung der EU-Zugehörigkeit aufzeigen. Er basiert auf einem Scoring-Modell, in dem eine Reihe von Einflüssen quantifiziert und zusammengefasst werden. Drei Aspekte dieser Gefährdung werden abgegriffen: Risiken, die aus allgemeinen Wahlen innerhalb der Europäischen Union hervorgehen (1. Säule), Risiken aufgrund einer schwindenden Zustimmung zu Europa (2. Säule) und wirtschaftliche Risiken, die antieuropäische politische Verwerfungen nach sich ziehen können (3. Säule). Fallweise werden Eventrisiken – wie das italienische Referendum über die Senatsreform im vergangenen Jahr – als 4. Säule berücksichtigt. Die Skalen von null bis hundert sind so normiert, dass höhere Werte einen höheren Gefährdungsgrad der institutionellen Stabilität ausdrücken.Wahlrisiken resultieren in erster Linie aus der Bedeutung antieuropäischer oder euroskeptischer Parteien des linken und rechten Randes. Je stärker diese sind, desto größer wird das Risiko, dass sie an Regierungen beteiligt werden und ihre Positionen umsetzen können. Doch auch aus der Opposition heraus vermögen sie ihre Themen auf die politische Agenda zu setzen. Die Stärke dieser Parteien und die verbleibende Zeit bis zu den nächsten Wahlen bestimmen einen wesentlichen Teil des Wahlrisikos. Zudem muss aber auch die Möglichkeit vorzeitiger Neuwahlen berücksichtigt werden. Dieses Risiko ist umso größer, je geringer die Parlamentsmehrheit einer Regierung ist und je mehr Parteien an der Regierung beteiligt sind. Die Einstellung zu Europa für die zweite Säule kann mit Hilfe von Umfragen wie des Eurobarometers abgegriffen werden. Ökonomische RisikenWährend demoskopische Methoden zur Vorhersage von Wahlergebnissen in den vergangenen Wahlentscheidungen Schwächen offenbart haben, erscheinen die Daten über die Zustimmung zu Europa noch weitgehend verzerrungsfrei. In den DePRI fließen Umfragen zum Image der EU ein sowie zum Vertrauen in die zentralen Institutionen Europas, in die EU-Kommission und in die Europäische Zentralbank. Je kritischer die EU und ihre Institutionen gesehen werden, desto größer wird das Risiko eines Auseinanderdriftens der Mitgliedstaaten. Das kann sich in immer schwieriger werdenden Entscheidungsprozessen bei der Lösung der anstehenden Fragen über die künftige Gestalt der EU bis zu Referenden über einen EU-Austritt niederschlagen.Ökonomische Risiken können eine Art Vorstufe zu den oben genannten Risiken sein. Eine außergewöhnlich hohe Arbeitslosigkeit könnte als Nährboden für Unzufriedenheit und damit neue Politikansätze gelten. Eine hohe Schuldenstandsquote begrenzt den haushaltspolitischen Spielraum der Staaten, um Problemen entgegenzuwirken, und macht unpopuläre Sparmaßnahmen erforderlich. Gleichzeitig kann sie als Barometer der aufgelaufenen gesellschaftlichen Probleme dienen. Beide Aspekte finden im DePRI Berücksichtigung. Auch Eventrisiken werden berücksichtigt wie das Brexit-Referendum, die Präsidentschaftswahlen in Österreich oder das Referendum über die italienische Senatsreform. Solche Ereignisse können zu disruptiven politischen Entwicklungen in Europa werden. Dies ist am Beispiel Großbritanniens ersichtlich, dessen sonstige Scores vor dem Referendum nicht auf besondere Gefährdungen der Mitgliedschaft in der EU hindeuteten.Alle Risikoausprägungen werden auf eine Skala von eins bis hundert normiert. Der Gesamtscore ist ein gleichgewichtetes, geometrisches Mittel der ersten drei Säulen. Eventrisiken werden erst dann berücksichtigt, wenn sie das Gesamtrisiko weiter erhöhen. Das geometrische Mittel wurde gewählt, um nur eine eingeschränkte Kompensationsmöglichkeit zuzulassen. Frankreich im FokusDie Ergebnisse zeigen eine deutliche Gefährdung der europäischen Institutionen. Damit bestätigen sie die anekdotische Evidenz, die jeder politische oder ökonomische Beobachter in den letzten Jahren gewonnen hat. Das Vereinigte Königreich kann mit der vollzogenen Austrittserklärung aus der Konkurrenz genommen werden, nachdem es insbesondere aufgrund der hohen Ereignisrisiken vor dem Referendum in der Spitze einen vollen Ausschlag des Indikators von 100 Punkten erreicht hatte.Am Beispiel Frankreich kann man auch die Zunahme der Risiken ablesen. Seine ökonomischen Rahmendaten haben sich seit der Finanzkrise deutlich verschlechtert. Parallel dazu ist die Einstellung zu Europa in den Parteien, aber auch in der Bevölkerung trendmäßig skeptischer geworden. Abgesehen von Großbritannien erreichen zurzeit nur Griechenland, Italien und Zypern noch höhere Gefährdungswerte als Frankreich. In Griechenland spielen wirtschaftliche Faktoren eine Schlüsselrolle, knapp dahinter liegt das ramponierte Image der EU. In Italien haben wirtschaftliche Faktoren ebenfalls eine herausragende Bedeutung. Doch angesichts starker populistischer Kräfte am linken und rechten Rand des Parteienspektrums ist auch das Wahlrisiko beachtlich hoch.Die Länder mit dem geringsten politischen Risiko sind zumeist solche, in denen die Wirtschaft läuft. Eine Ausnahme bildet Finnland, das mit den Problemen eines heftigen Strukturwandels zu kämpfen hat. Die wirtschaftlichen Probleme werden dort aber durch ein hohes Vertrauen in die EU und ein vergleichsweise geringes Wahlrisiko in Schach gehalten. Einsatz von SeismographenEine solche Visualisierung von Einflussfaktoren darf in der Aussage nicht überfordert werden. Eine Schwelle für den sicheren Austritt aus der EU gibt es nicht, ebenso wenig lassen sich einzelne Punktestände bestimmten Austrittswahrscheinlichkeiten zuordnen. Auch ist die Methodik angreifbar: ein solch komplexes Phänomen wie ein historisch-politischer Wandel lässt sich nur schwer auf einige wenige Variablen reduzieren. So gibt es plausible Argumente dafür, dass dieser Wandel gar nicht in erster Linie mit den ökonomischen Ergebnissen der gegenwärtigen Weltordnung zu erklären ist, sondern ein Ergebnis vielfältiger gesellschaftlicher Entwicklungslinien darstellt, die von der demografischen Entwicklung über die kulturellen Auswirkungen des Freihandels bis hin zur gefühlten Ohnmacht vor dem technologischen Fortschritt reicht. Trotzdem ist es sinnvoll, diesen Entwicklungen anhand vieler Seismographen zu folgen.—-Andreas Scheuerle, Makro Research, DekaBank —-Ulrich Kater, Chefvolkswirt, DekaBank