GASTBEITRAG

Politische Realitäten der EU-Osterweiterung

Börsen-Zeitung, 3.11.2016 Das Thema EU-Erweiterung ist kein Selbstläufer mehr. Der Beitritt Bulgariens, Rumäniens oder Kroatiens gilt heute als vorschnell. Einige ältere EU-Neumitglieder (Ungarn, Polen) weisen enorme Rückschritte in den Bereichen...

Politische Realitäten der EU-Osterweiterung

Das Thema EU-Erweiterung ist kein Selbstläufer mehr. Der Beitritt Bulgariens, Rumäniens oder Kroatiens gilt heute als vorschnell. Einige ältere EU-Neumitglieder (Ungarn, Polen) weisen enorme Rückschritte in den Bereichen Demokratie und Marktwirtschaft auf. Das Thema EU-Erweiterung ist zusätzlich durch die diffuse EU-Perspektive der Türkei beschwert. Das von Migrationsthemen bestimmte Brexit-Votum offenbarte klare Desintegrationskräfte und hat Sorgen vor weiteren populistischen Anti-EU-Auswüchsen auf nationaler Ebene bestärkt. Insofern muss auch in EU-Erweiterungsfragen mehr Rücksicht auf Stimmungslagen genommen werden.Referenden diesbezüglich sind in EU-Mitgliedsländern denkbar. Die Sorge, dass mit jeder Aufnahme eines der sechs potenziellen Anwärter aus Südosteuropa mit politisch realer EU-Perspektive (SEE-6: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Mazedonien, Montenegro, Kosovo), auch die Ansprüche der Türkei wachsen, kann politisch instrumentalisiert werden. In vielen relevanten Dimensionen ist die Türkei zudem als EU-Kandidat nicht minderwertiger als einige SEE-6-Länder. Insofern kann es sinnvoll sein, vor einer EU-Vergrößerung erst die türkische Beitrittsperspektive zu klären – ein politisch langwieriger Prozess. Brexit blockiert auf JahreEin an Wirtschaftsinteressen ausgerichteter Brexit könnte hier eine Ausstiegsstrategie offerieren, könnte man doch auch eine privilegierte Partnerschaft für die Türkei erwägen. Zudem wird der Brexit vorerst viele Ressourcen und politisches Kapital binden. Somit hat die politische Festlegung des amtierenden EU-Kommissionspräsidenten, dass es in seiner Amtszeit bis 2019 keine Erweiterung geben werde, hohen Praxisbezug. Zumal ökonomisch eher Italien und Griechenland sowie Österreich spezifische Interessen an einer SEE-Erweiterung haben könnten, aber diese Länder kaum EU-Agenden prägen werden. Interessant ist, dass selbst im eher balkanaffinen Österreich laut einer Umfrage (der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik) nur etwa 15 bis 25 % der Bevölkerung den Beitritt einzelner SEE-6-Länder begrüßen würden.Interessant ist auch das Stimmungsbild bei den Kandidaten. Nur in den Armenhäusern Albanien und Kosovo wertet das Gros der Bürger den EU-Beitritt als vorteilhaft für die eigene Wirtschaft und/oder die eigene Firma. Bei den anderen Kandidaten geht nur etwa die Hälfte der Bevölkerung von besseren Wirtschaftsperspektiven durch den EU-Beitritt aus. Die Allgemeinheit ist hier realistischer als politische Eliten, ihr ist das Wohlstandsgefälle klarer. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt der SEE-6-Länder (bei Kaufkraftparitäten) liegt nur bei 35 % des EU-Schnitts. Selbst unter der Annahme eines kontinuierlichen Aufholprozesses würde in den SEE-6-Ländern erst in ca. 10 bis 15 Jahren das Wohlstandsniveau Rumäniens oder Bulgariens (entweder zum Zeitpunkt des EU-Eintritts oder aktuell) erreicht. Zur Erreichung vergleichbarer Einkommen wie in Mittelosteuropa zum EU-Beitritt wären nochmals mindestens zehn Jahre (unter der Annahme des konstanten Aufholens) notwendig. Des Weiteren ist zu betonen: Die wirtschaftliche Verflechtung der SEE-6-Länder mit der EU ist – auch ohne Mitgliedschaft – schon beträchtlich. Daher gibt es keine einfachen Erweiterungsgewinne. Und auch die Verluste aus einer Nichtmitgliedschaft sollten nicht überschätzt werden. In gewisser Weise sind herausfordernde Wirtschaftsbedingungen und fragmentierte Märkte in den SEE-6-Ländern auch ein “Standortfaktor” oder etablierte Firmen haben dort durchaus spezifische Chancen.Ökonomisch drängt sich eine EU-Südosterweiterung nicht auf. Das politische Kalkül auf EU-Ebene könnte aber dennoch anders lauten. Die SEE-6-Länder weisen zusammen nur ein nominales BIP auf dem Niveau der Wirtschaftskraft der Slowakei oder eines kleineren deutschen Bundeslands auf. EU-Befürworter könnten hier die Chance auf eine “billige” Befriedung des Balkans wittern – und Europa braucht ja innen- und außenpolitische Erfolge. Allerdings würde die EU-Bevölkerungszahl bei einer SEE-6-Erweiterung um 18 Millionen steigen, fast die Einwohnerzahl Rumäniens. Zudem kann sich die Hälfte der Südosteuropäer vorstellen, ihre Heimat zu verlassen und im Ausland zu arbeiten. Solch eine Neigung zur Arbeitsmigration, bei hohem Wohlstandsgefälle, wäre angesichts von Wachstums- und Strukturproblemen in der EU kaum vermittelbar. Problem FreizügigkeitZudem gibt es enge Verknüpfungen ins Ausland, was der hohe Beitrag an Rücküberweisungen am BIP der SEE-6-Länder zeigt (ca. 10 %). Hier kann besonders über Netzwerkeffekte Migration gefördert werden. Daher wird ein vorschneller EU-Beitritt der SEE-6-Länder wohl mit erheblichen Restriktionen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit einhergehen. Damit drohen Enttäuschungen vor Ort und ein EU-Beitritt wäre wohl auch für lokale Politiker keine politische Gewinnstrategie. Auf EU-Ebene ist zu beachten, dass eine Erweiterung um die SEE-6-Länder nicht nur die Entscheidungsfindung verkomplizieren würde. So würde auf absehbare Zeit der Anteil der Empfängerländer in der EU weiter steigen. Daher erscheint auch aus dieser Perspektive eine vorsichtige und fallbezogene Erweiterung sinnvoll, aber keine große Erweiterungsrunde.Trotz politischer Lippenbekenntnisse ist in EU-Erweiterungsfragen Realismus gefragt. Derzeit gibt es kaum glaubwürdige Beitrittskandidaten, die EU ist nicht erweiterungsbereit, die Bevölkerung erweiterungsmüde und eine hastige Erweiterung wäre folglich nur ein Elitenprojekt. In wichtigen EU-Ländern gibt es Zustimmungswerte von 20 % in EU-Erweiterungsfragen, vor 10 bis 15 Jahren waren es zumindest 40 bis 50 %. Ohne wirtschaftliche Beitrittsreife gibt es keine Win-win-Situation, weder aus der EU- noch der Eurozonen-Mitgliedschaft. Zumal sich einige der SEE-Länder angesichts heimischer makrofinanzieller Schwächen und Festkursbindungen (zum Euro) auch Hoffnungen auf einen raschen Eurozonenbeitritt machen. Letzterer erscheint aber noch viel weiter weg als ein EU-Eintritt – besonders, wenn die Eurozone zum Nukleus eines Kerneuropas werden sollte.—-Gunter Deuber, Osteuropa-Analyst der Raiffeisen Bank International