Problem ja, Falle nein
Von Stephan Balling, FrankfurtVor fast zwei Jahren hat Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner Ifo-Instituts, die Targetdebatte in Deutschland angestoßen. Seitdem zieht er durch die Republik, um dieses hochkomplexe Thema einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ob bei einer öffentlichen Vorlesung vor Bürgern an der Freiburger Universität, der jährlichen Ökonomenkonferenz “The ECB and its Watchers” in der Deutschen Nationalbibliothek oder an den Investmentfondstagen der Börsen-Zeitung im Frankfurter Palmengarten: Wenn Sinn über die Eurokrise referiert und auf die gewaltigen Finanzrisiken für Deutschland hinweist, hält das Publikum den Atem an, im Saal herrscht absolute Stille. Die Zeitbombe, vor der Sinn warnt, meint der Zuhörer tatsächlich ticken zu hören.Im Sommer hat der renommierte Volkswirtschaftsprofessor über das Targetproblem ein Buch verfasst. Er warnt: “Es steht das Vermögen eines jeden einzelnen Bürgers auf dem Spiel.” Der Ifo-Präsident erklärt, wie der Fluss privater Kredite in die Südländer mit Ausbruch der Finanzkrise versiegte, und so Zahlungsbilanzprobleme entstanden. Die Leistungsbilanzdefizite dieser Länder – also die hohen Importe im Vergleich zu den niedrigen Exporten – wurden bis dahin durch Kapitalimporte – etwa Bankkredite aus Mittel- und Nordeuropa – finanziert, so dass die Zahlungsbilanzen ins Gleichgewicht kamen. Doch der private Kapitalfluss in die heutigen Krisenländer trocknete aus. Dazu kommt eine Kapitalflucht aus den Krisenländern. In den Zahlungsbilanzen klaffte lange Zeit eine immer größere Lücke.Um den Crash der Krisenstaaten zu verhindern, stellt die EZB den Banken dort immer großzügigere Kredite gegen immer schlechtere Sicherheiten bereit. Das so geschöpfte Geld fließt in den Norden zu den Banken, die es dann im Falle Deutschlands bei der Bundesbank horten. Da die grenzüberschreitenden Überweisungen über die Zentralbanken abgewickelt werden, baut die Bundesbank gegen den Rest des Eurosystems der Zentralbank (ESZB) immer höhere Forderungen auf, die Targetforderungen, benannt nach dem ESZB-Zahlungssystem “Target”. Sinn: Deutschland erpressbarZugleich wachsen die Forderungen der Banken in Deutschland gegen die Bundesbank. Sinn schreibt: “Der Prozess findet kein Ende. Im Süden laufen die elektronischen Notenpressen heiß, man kauft sich im Norden, was einem beliebt, und die Notenbanken des Nordens saugen das Geld im Austausch gegen weitere Target-Forderungen wieder auf.” Sinn verweist darauf, dass die Targetforderungen der Bundesbank von mehr oder weniger Null vor der Krise massiv gestiegen sind. Zugleich hat die Bundesbank hohe Verbindlichkeiten gegen die deutschen Banken. Sinn schreibt: “Klar ist jedenfalls, dass die Bundesbank die Forderungen der Banken nicht bedienen kann, wenn sie ihre Target-Forderungen nicht eintreiben kann”, also wenn der Euroraum zerbrechen würde. Notfalls sei eine Rekapitalisierung durch den Bundesetat nötig, was eine Steuererhöhung, eine Rentenkürzung oder Ähnliches impliziere.Im August erreichten die Targetsalden mit 751 Mrd. Euro einen Rekord. Seitdem sind sie um knapp 100 Mrd. Euro gefallen. Ökonomen sind uneins, ob das nun eine Trendwende ist oder nur ein Zwischentief. Jedenfalls wurde Deutschland aus Sinns Sicht erpressbar: “Die Target-Forderungen Deutschlands sind quasi ein Pfand, das es bei den Mitgliedern der Eurozone hinterlegt hat und bei einem Austritt verliert.” Der derzeitige Rettungskurs sie deshalb falsch.Sinn fordert, endlich Staaten und Banken insolvent gehen zu lassen und die privaten Gläubiger an Umschuldungen zu beteiligen. Die Targetsalden sollten wie im vergleichbaren System in den USA mit Pfandbriefen und goldgedeckten Wertpapieren besichert werden, um den Krisenländern den Spaß am Gelddrucken zu verderben. Einem Euro-Austritt redet Sinn nicht das Wort. Sein Buch sei ein “Widerspruch” gegen Euro-Kritiker wie Hans-Olaf Henkel, Joachim Starbatty oder Arnulf Baring.So sehr Sinns Analyse über die Ursachen und den Verlauf der Eurokrise überzeugt und auch seine Vorschläge über eine Reform des Targetsystems durchaus einleuchten, sein Schluss, dass Deutschland in der Targetfalle sitzt, besticht nicht völlig. Richtig ist zwar, dass das in den Euro-Krisenländern geschöpfte Zentralbankgeld vor allem nach Deutschland fließt und in der Bundesbankbilanz als Forderungen gegen das ESZB und Verbindlichkeiten gegen deutsche Kreditinstitute landet: Seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 haben sich die Bundesbankforderungen (netto) gegen Banken von 208 Mrd. Euro in Verbindlichkeiten von etwa 300 Mrd. Euro gewandelt. Aber natürlich kann die Bundesbank bzw. die EZB diese Forderungen der Finanzwirtschaft jederzeit bedienen, schließlich kann sie einfach Zentralbankgeld schaffen. InflationsgefahrEine Zentralbank kann mit negativem Eigenkapital operieren. Die Bundesbank könnte eine Abschreibung der Targetforderungen also verkraften. Ein negatives Eigenkapital birgt zwar theoretisch die Gefahr eines Reputationsschadens. Aber vor allem ist es die ultraexpansive Geldpolitik der EZB, die derzeit Inflationsrisiken schafft, die vor allem in Deutschland wirksam werden können, weil die Banken hierzulande zwischen 300 und 400 Mrd. Euro an Liquidität bei der Notenbank horten, während Gelder aus den Peripherieländern abfließen. Durch die Geldpolitik und das Targetsystem wachsen auch die Risiken in der Bundesbankbilanz, weshalb der Finanzminister bereits jetzt auf die Ausschüttung von Bundesbankgewinnen verzichten muss. Sinn hat also insofern recht, dass die gegenwärtige Rettungspolitik Deutschlands Bürgern enorme finanzielle Lasten aufbürdet, weit über die offiziellen Rettungsschirme der Regierungen hinaus.Die Targetsalden sind somit das Fieberthermometer für den Euro-Patienten. Doch die Lasten dürften selbst bei einem raschen Ende des Euro eher langfristig in einem schleichenden Prozess via erhöhte Inflation (die Bundesbank könnte die von der EZB geschaffene Liquidität in Deutschland wohl nicht abrupt abschöpfen), negativen Realzinsen und ausbleibenden Bundesbankgewinnen abgetragen werden als durch einen plötzlichen Knall.Der Vermögensverlust vollzieht sich dabei unabhängig davon, ob Deutschland Euro-Mitglied bleibt oder nicht, ob die Bundesbank ihre Targetforderungen nun abschreiben muss oder in ihrer Bilanz behält. Die Targetforderungen der Bundesbank stellen damit, anders als Sinn argumentiert, kein wesentliches Hindernis dafür dar, dass Deutschland die Eurozone verlässt. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass Sinn an einer Stelle seines Buch selbst zu etwas Gelassenheit rät: “Sollte der Euro fallen, wird Europa nicht untergehen, und weil das so ist, sollte man auch nicht jeden beliebigen Preis für seinen Erhalt zahlen. Es ist an der Zeit, dass die Politik aus ihren ideologischen Überhöhungen auf den Boden der praktischen Vernunft zurückkehrt.”