GASTBEITRAG

Problemzone Europa

Börsen-Zeitung, 22.4.2016 An Unsicherheitsfaktoren mangelt es im Jahr 2016 nicht: Die Flüchtlingsfrage und die längst nicht ausgestandene Schuldenkrise halten Europa in Atem, der Terror dominiert die Schlagzeilen, und in den USA läuft es...

Problemzone Europa

An Unsicherheitsfaktoren mangelt es im Jahr 2016 nicht: Die Flüchtlingsfrage und die längst nicht ausgestandene Schuldenkrise halten Europa in Atem, der Terror dominiert die Schlagzeilen, und in den USA läuft es wirtschaftlich und politisch keineswegs rund. Da hätte es eines zusätzlichen Aufreger-Themas, wie ihn der mögliche Abschied Großbritanniens aus dem Kreis der EU-Mitglieder nach dem Referendum am 23. Juni darstellt, gar nicht bedurft.Und doch hätte gerade dieses Thema das Potenzial, eine konstruktive und sowohl für Großbritannien als auch für die EU zukunftsweisende Debatte anzustoßen. Seit Monaten werden die ökonomischen Folgen eines Brexits für den Handel, die Finanzmärkte und die Politik breit diskutiert, und die große Unsicherheit über den Ausgang des Referendums hat sich beispielsweise in einem veritablen Kursverfall des Pfunds von mehr als 10 % in den vergangenen Monaten niedergeschlagen. GrundsatzfrageAus dem Blick gerät dabei, dass die Briten für ihre Entscheidung für oder gegen einen Verbleib in der EU keinesfalls nur auf Wachstumskennzahlen schauen dürften. Vielmehr geht es um Grundsätzliches: Wie attraktiv ist eigentlich eine Mitgliedschaft in diesem Klub? Angenommen, Großbritannien wäre aktuell nicht Mitglied der EU und im Referendum ginge es um die Frage eines Beitritts: Würde man den Briten ein Ja-Votum empfehlen?Positiv wäre natürlich weiter in die Waagschale zu werfen, dass die EU einen riesigen Binnenmarkt bietet. Unstrittig dürfte auch sein, dass die Freiheit des Güter-, Dienstleistungs-, Arbeits- und Kapitalverkehrs grundsätzliche Vorteile bietet – gerade den Briten mit ihren jahrhundertelangen liberalen Traditionen wird das bewusst sein. Doch es ist eben auch offensichtlich, dass die wirtschaftliche Dynamik in der EU seit Jahren deutlich schwächer ist als in Großbritannien. Für aktuelle Herausforderungen wie die Zuwanderung von Flüchtlingen finden weder die EU-Kommission noch die Regierungschefs selbst unter der Drohkulisse des Auseinanderbrechens der EU eine einvernehmliche Lösung.Die EU befindet sich ganz offensichtlich in einer institutionellen Krise. Der institutionelle und ordnungspolitische Rahmen, den der Staatenbund in der Vergangenheit immer wieder weiterentwickelt hat, weist seit Jahren deutlich sichtbare Defizite auf. Von der notwendigen Weiterentwicklung dieses Rahmens ist dennoch wenig bis nichts zu sehen. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Währungsunion: Der Umgang mit den viel zu hohen Staatsschulden Griechenlands ist weiterhin ungeklärt, und an der heterogenen ökonomischen Entwicklung der Euro-Länder, die ja die Ursache der Schuldenkrise war, hat sich kaum etwas geändert. Solange die Länder keinen institutionellen Rahmen finden, der innerhalb der Währungsunion Haushaltsdisziplin mit Wettbewerbsfähigkeit verbindet, pumpt die Zentralbank Monat für Monat steigende Liquiditätsbeträge in die Märkte, um diese ruhig zu halten – ein Konzept, das augenscheinlich nicht ewig funktionieren kann.Damit ist man bei der entscheidenden Frage, was für eine Union für die Zukunft eigentlich angestrebt werden soll. Die traditionelle britische Perspektive wäre: Die EU gibt einen ordnungspolitischen Rahmen vor, innerhalb dessen die Eigenständigkeit der einzelnen Mitgliedsstaaten gewahrt bleibt. In einer solchen EU stehen nicht nur die Unternehmen zueinander im Wettbewerb, sondern auch die einzelnen Staaten in ihrer Suche nach den jeweils besten Rahmenbedingungen. Politische Fehlleistungen auf nationaler Ebene werden durch eine verminderte Wettbewerbsfähigkeit und daraus resultierende Wohlstandseinbußen sanktioniert, was einen Anreiz zur Änderung der Politik bietet. Dies ist im Grundsatz auch immer das Ideal der deutschen Politik gewesen (jedenfalls soweit diese ordnungspolitisch inspiriert war).Das von Italien und auch Frankreich präferierte Modell sieht dagegen eine Angleichung der Länder auf dem Wege einer immer weitreichenderen Regulierung auf europäischer Ebene vor. In diesem Ansatz stehen nicht Strukturreformen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund, sondern beispielsweise der Abbau der hohen Handelsüberschüsse Deutschlands, der ja gerade aus der bislang vorhandenen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten resultiert. Das Ideal ist hier eher der europäische Super-Staat, der auf dem Wege der Umverteilung eine gewisse Homogenität der Länder herstellt, dabei aber auch nachhaltige Anreize für eine adäquate Gestaltung der Rahmenbedingungen untergräbt – ein Blick auf die Wirkungen des deutschen Länderfinanzausgleichs sollte hier überaus lehrreich sein. Der Geldpolitik wird in diesem Rahmen die Aufgabe zugewiesen, politische Fehler mit einer lockeren Geldpolitik zu kaschieren – eine Rolle, die die EZB seit dem Amtsantritt Mario Draghis geradezu perfekt ausfüllt.Für Großbritannien ist dieses Modell indes nicht attraktiv, und dass der Ausgang des Referendums ungewiss erscheint, dürfte nicht an mangelndem ökonomischem Verständnis der Briten liegen, sondern daran, dass viele von ihnen genau diese “Vision” von Europa nicht wollen. Deshalb wäre das bevorstehende Referendum eine Steilvorlage, europaweit über die Zukunft der EU zu diskutieren. Von den Briten wäre da manches in Sachen Haushaltsdisziplin, Bürokratieabbau, Vertrauen in marktwirtschaftliche Lösungen und die wachstumssteigernden Wirkungen gezielter Strukturreformen zu lernen. Großbritannien wiederum könnte angesichts der jüngsten Erfahrungen in der Finanzkrise durchaus einem einheitlichen regulatorischen Rahmen für den Finanzdienstleistungssektor etwas abgewinnen.Unabhängig vom Ausgang des Referendums wird die EU für sich die Frage beantworten müssen, mit welchem institutionellen Rahmen sie die globalen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft meistern will. Das EU-Mitglied Großbritannien könnte für diese Diskussion wichtige Impulse setzen. Die Frage eines möglichen Brexits sollte deshalb nicht darauf reduziert werden, um wie viele Zehntelpunkte das britische Wachstum niedriger ausfallen könnte. Was eigentlich auf den Tisch gehört, ist eine grundlegende Verständigung darüber, welche Aufgaben die EU perspektivisch wahrnehmen soll und welche nicht. Zeit dafür ist nicht erst nach dem 23. Juni, sondern am besten davor.—-Axel D. Angermann, Chefvolkswirt Feri-Gruppe