Putins panische Angst vor dem Volk
Wer den Kreml ausschließlich verteufelt, hat sich nie wirklich mit Russland befasst. Zwar kann man Präsident Wladimir Putin getrost vorwerfen, dass er und die Seinen das Land nicht wirklich nach vorn bringen, sondern lediglich dem Volk nach dem Mund reden und mit der Bedienung eines Mainstreams im Denken ausreichend Freiraum schaffen, um sich selbst zu bereichern. Aber nicht einmal das stimmt zu 100 Prozent. Zumindest bis zum Jahr 2014 hat gerade Putin sich deutlich westlicher und liberaler geriert als der russische Mainstream. Auch war sein Programm auf die Modernisierung der Wirtschaft und die Schaffung von breitem Wohlstand angelegt. Und nimmt man die ersten Jahre nach Putins Amtsantritt im Jahr 2000, so war diese Zeit sogar von einschneidenden Reformen geprägt.Von diesem früheren Geist ist leider nicht viel übrig geblieben. Spätestens mit der Annexion der Krim hat Putin “in der Sprache des Volkes zu reden begonnen”, wie der Schriftsteller Viktor Jerofejew im Gespräch prägnant konstatiert. Das Hauptaugenmerk gilt seither der Außenpolitik, mit der Putin nicht nur in die Geschichte eingehen will, sondern die ihm auch die Möglichkeit bietet, das “Phantom der äußeren Bedrohung” (so eine Moskauer Zeitung vor kurzem) zu innenpolitischen Zwecken zu kultivieren. Wie notwendig dies ist, hat kürzlich Sergej Karaganow, Kreml-Berater und Ehrenvorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, im Interview mit dem “Spiegel” enthüllt, wobei es den Anschein hat, dass ihm diese Enthüllung unabsichtlich herausgerutscht ist: “Die politischen Eliten in Russland wollen keine Reformen im Innern, sie sind dazu nicht bereit.”Diese Feststellung eines Mitglieds des Establishments muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Und doch kommt sie nicht so völlig überraschend. Schon in früheren Jahren hat sich gezeigt, dass Putin zwar in vielen Situationen und öffentlichen Auftritten stilistisch perfekt den starken Mann gab, aber mit einer panischen Vorsicht agierte, wenn es um notwendige Reformschritte ging. Sichtbar wurde dies etwa bei der langen Diskussion über die Monetarisierung der zuvor als Sachleistungen gewährten Sozialleistungen, die am Ende immerhin gegen den Widerstand vieler durchgesetzt wurde – anders als die überfällige Anhebung des niedrigen Renteneintrittsalters mitsamt der Abschaffung aller anachronistischen Privilegien zur Frührente, die das Sozialsystem zunehmend sprengen. Putin greift das heiße Eisen nicht an. Und erst recht wagt er sich nicht an die flächendeckende Korruption.Dafür hat er sich nun an einem neuen Thema versucht. Wie die Agentur Bloomberg erfuhr, hat er dieser Tage im neuen Rat für strategische Entwicklung angeregt, die Millionen Russen, die schwarzarbeiten und keine Steuern zahlen, aus der sogenannten “Garagenwirtschaft” heraus- und in die Legalität hinüberzuführen. Die Garagenökonomie hat in Russland Tradition. Schon zur Sowjetzeit hatten unternehmerische Einzelpersonen begonnen, freie Räumlichkeiten als kleine Werkstätten gemeinsam zu nutzen und so die Lücken der Planwirtschaft zu füllen. Bis heute arbeiten sie dort. Und bis heute zahlen sie keine Steuern.Das hat bisher auch kaum jemanden wirklich gestört. Dass Putin nun auf diese Leute aufmerksam wird und macht, hat zwei Gründe: Zum einen braucht der Staat angesichts der anhaltenden Rezession dringend Geld. Zum anderen haben die “Garaschniki”, wie die Unternehmer und Arbeiter in den Werkstätten genannt werden, zwar nicht viel Geld, aber zahlenmäßig sind es viele. Auf satte 30 Millionen Personen respektive 40 % Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung, die 76,5 Millionen ausmacht, beläuft sich der Schattensektor, so eine Umfrage der Präsidentenakademie für Volkswirtschaften.Abermals bezeichnend ist, dass es nach der ersten Thematisierung sofort wieder leise um die Garaschniki geworden ist. Offenbar ist es Putin doch zu heikel, diese Angelegenheit anzugehen.Putin weiß, wie schnell in Russland die Stimmung kippen kann. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung fürchtet nicht das Volk den Kreml-Herrscher, den es so abgöttisch liebt. Es ist umgekehrt Putin, der das Volk fürchtet – was angesichts konstant hoher Zustimmungsraten von 80 % paradox erscheint.