Raus aus der Retrospektive
Die Krise macht Konjunkturforscher kreativ: Weil die Pandemie ihnen die Grenzen der üblichen Statistik aufzeigt, nutzen sie Echtzeitindikatoren und wöchentlich aktualisierte Daten. Diese zeigen bereits ein optimistischeres Bild der deutschen Wirtschaft – und sollten sich dauerhaft etablieren.Von Alexandra Baude, FrankfurtDeutschland steht die tiefste Rezession der Nachkriegszeit bevor. Und noch bevor der für das zweite Quartal erwartetet Tiefpunkt in der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sichtbar ist, macht sich unter Ökonomen bereits Optimismus breit. Geschürt wird dieser vor allem durch den Blick auf bislang eher unbeachtete Datenreihen.Denn die sonst im Fokus stehenden Konjunkturstatistiken wie Industrieproduktion, Auftragseingänge oder eben das BIP zeigen die Lage der Wirtschaft in der Retrospektive. Auch Stimmungsumfragen wie das Ifo-Geschäftsklima oder der Einkaufsmanagerindex sind zwar aufgrund ihrer Konstruktion aktueller. Wegen der extremen Situation derzeit lassen sie allerdings keinen zuverlässigen Rückschluss auf die harten Daten und die Wirtschaftsentwicklung zu. Da der April als einziger Monat komplett im Zeichen des Lockdowns stand, verwundert es nicht, dass das Statistische Bundesamt (Destatis) jüngst bei Auftragseingang, Produktion und Außenhandel über Rekordeinbrüche berichtet hat. Die Erfahrung lehrt, dass es danach nur besser werden kann. Handy verrät vielesFür aussagekräftiger halten Ökonomen etwa die für die Zeit der Coronakrise von Technologiekonzernen wie Google und Apple bereitgestellten Mobilitätsdaten ihrer Nutzer, die sich nach Ländern und Regionen filtern lassen. Apple zeichnet seit dem 13. Januar täglich auf, wie sich die Anfragen der Nutzer nach Wegbeschreibungen verändern, und das getrennt danach, ob die Nutzer das Auto nehmen, den öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) oder zu Fuß gehen. Bei Google geht die Analyse tiefer und basiert auf tatsächlichen Standortdaten. Hier wird sichtbar, seit wann die Menschen wieder vermehrt das Haus verlassen, in Bus und Bahn steigen, Einzelhandelsgeschäfte, Supermärkte oder Restaurants oder städtische Parks besuchen. Wöchentlich verfügbare Lkw-Mautdaten und der Stromverbrauch zeigen, dass auch die Industrie wieder hochfährt.Das Statistische Bundesamt veröffentlicht seit Anfang Mai experimentelle Daten zu den wöchentlichen Veränderungen bei neuen Kredit- und Hypothekenverträgen von Privatkunden sowie Online-Transaktionen. Diese Indikatoren messen Aktivitäten im Konsum- und Immobilienbereich im Vergleich zur Vorjahreswoche. Derzeit lassen sie eher auf ein gebremstes Konsumverhalten schließen. Auch laufen Versuche, anhand von Satellitenbildern einen Nowcast-Indikator zu erstellen, um mittels Schiffs- und Containerbewegungen, der Auslastung von Parkplätzen etc. frühzeitig zu identifizieren, wo die Wirtschaft wieder an Fahrt aufnimmt. Dem stehen allerdings neben den in Europa oft ungünstigen Witterungsbedingungen noch große zeitliche Lücken bei den Aufnahmen und hohe Kosten entgegen.Bereits im Februar hat die Europäische Zentralbank (EZB) in ihrem Wirtschaftsbericht dargelegt, wie auch mithilfe der Textanalyse von Zeitungsartikeln ein Echtzeitindikator der realwirtschaftlichen Aktivität zu erstellen ist. Die Methode kommt aus den USA, doch eigne sie sich in vielen Industrie- und Schwellenländern. Gemessen wird täglich die Zahl der Beiträge zu Konjunkturschwäche bzw. Rezession in den USA im Verhältnis zur Gesamtzahl der in den USA veröffentlichten Artikel. Auch Bundesbank mischt mitAus einigen der bereits genannten Datenreihen und Methoden erstellt die Bundesbank – in Anlehnung an einen von der Federal Reserve Bank of New York veröffentlichten Index – einen “wöchentlichen Aktivitätsindex” (WAI), den sie in ihrem Monatsbericht Mai vorgestellt hat und weiter den Umständen anpasst. Derzeit fassen die Bundesbank-Ökonomen neun täglich und wöchentlich verfügbare Indikatoren zusammen, errechnen einen 13-Wochen-Durchnitt und ergänzen dies mit Daten zur monatlichen Industrieproduktion und zum vierteljährlichen BIP. Stromverbrauch und Lkw-Maut-Index decken dabei die Bereiche Produktion und Handel ab, die Google-Suchbegriffe Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit zielen auf den Jobmarkt. Der Google-Suchbegriff Staatshilfe erfasst das Ausmaß, mit dem staatliche Hilfsmaßnahmen diskutiert werden. Die Zahl von Passanten auf Einkaufsstraßen in acht Großstädten ersetzt den bislang genutzten Indikator Bargeld und bildet das Konsumentenverhalten ab. Die Größe Luftverschmutzung dient als Kennzahl für den Bereich Mobilität und Konsumentenvertrauen. Abgerundet wird der Datenkranz mit dem Index aktuelle Lage, für den Verbraucher zu ihrer finanziellen Lage und Anschaffungsneigung befragt werden.Der WAI schwankt um seinen langfristigen Mittelwert von null, daher signalisieren positive Werte eine überdurchschnittlich steigende realwirtschaftliche Aktivität, wohingegen negative Werte eine unterdurchschnittliche Steigerung oder ein Sinken der Wirtschaftsleistung andeuten. Die Werte können als rollierende 13-Wochen-Wachstumsraten interpretiert werden. Der aktuelle Stand von -7,89 bedeutet demnach, dass die trendbereinigte Wirtschaftsaktivität in den 13 Wochen bis zum 7. Juni um 7,89 % unter der Aktivität der vorangegangenen 13 Wochen lag. Dies impliziert laut Bundesbank ein BIP-Minus von 8,18 % im Vergleich der 13-Wochen-Abschnitte.