"Regierungen streben immer nach Popularität"
Von 2002 bis 2013 war Paul Tucker Mitglied des Monetary Policy Committee der britischen Notenbank und ab 2009 deren Vizechef. Heute lehrt der 62-Jährige in Harvard und ist Vorsitzender des Systemic Risk Council. Der Ökonom gilt als einer der führenden Experten für Geldpolitik und Finanzstabilität. Herr Tucker, in der Coronakrise haben die Zentralbanken in einem zuvor unvorstellbaren Umfang Staatsanleihen gekauft und teils eng mit den Regierungen kooperiert. Ist die Grenze zur monetären Finanzierung nun überschritten?Das ist schwer zu sagen. Der Kauf von Staatsanleihen könnte unterschiedliche Gründe gehabt haben: die Ausgaben anzukurbeln, die Liquidität auf den Märkten für Staatsanleihen zu erhalten, die Kosten der Staatsverschuldung niedrig zu halten oder sicherzustellen, dass den Regierungen nicht das Geld ausgeht. Die ersten, ursprünglichen Käufe waren sicher zu groß für einen konventionellen Market-Maker der letzten Instanz. Und sie wurden getätigt, als ein großer Teil der Wirtschaft stillgelegt worden war, so dass das Timing für ein makroökonomisch begründetes Quantitative Easing nicht sinnvoll war – auch wenn dies später der Fall sein wird. Wir tappen also ein wenig im Dunkeln. Die Zentralbank der Zentralbanken BIZ warnt eindringlich vor der Gefahr einer “fiskalischen Dominanz” für die Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit der Zentralbanken. Ist die Sorge übertrieben?Die Zusammenarbeit mit den Fiskalbehörden kann in Notfällen von wesentlicher Bedeutung sein. Als die Wirtschaft schrumpfte, war es für die Regierungen lebenswichtig, die Haushalte und Unternehmen mit Bargeld zu versorgen und die Kernfinanzmärkte offen zu halten. Aber der Beitrag der Geldpolitik sollte freiwillig sein – es sei denn, die Unabhängigkeit wird per Gesetz offen ausgesetzt. Wenn die Zentralbanken unabhängig handeln, sollten sie den Zweck ihrer verschiedenen Handlungen erklären. Wenn sich die Wirtschaft wieder öffnet, kann ein Teil ihrer Hilfe, etwa für Emittenten von Unternehmensanleihen, rückgängig gemacht und durch gezielte fiskalische Maßnahmen ersetzt werden. Die Trennung von Geld- und Fiskalpolitik wurde stets mit der Notwendigkeit begründet, eine zu hohe Inflation zu verhindern. Doch nun liegt die Inflation vielerorts seit langem weit unter den Zielvorgaben. Ist es also an der Zeit, die Trennung zu beenden?Nein! Das beste Argument für die Unabhängigkeit ist, dass die gewählte Exekutive nicht die monetären Hebel kontrollieren sollte, da das Drucken von Geld latent ein Instrument der Besteuerung ist, mit dem die Vorrechte der gewählten Versammlung umgangen werden. Eins ist nach wie vor richtig: Regierungen streben immer nach Popularität, um wiedergewählt zu werden. Die Trennung ist also nach wie vor wichtig. Aber wie ich in meinem Buch “Unelected Power” argumentiert habe, müssen Zentralbanken angemessen eingeschränkt werden. Warum zieht die Inflation trotz der beispiellosen Geldflut der vergangenen Jahre nicht an? Ist die Inflation “tot” und ist die wirkliche Gefahr die Deflation, also eine Abwärtsspirale aus fallenden Preisen und rückläufigem Wachstum?Die Zentralbanken müssen eine Deflation vermeiden, ohne die Inflation wieder anzuheizen. Das ist nicht einfach. Niemand weiß mit Sicherheit, warum die Inflation niedrig war. Die Veränderungen in der Weltwirtschaft haben die Kosten und damit die Preise gedrückt. Das wird nicht ewig so weitergehen. Die Inflation ist übrigens nicht weit unter dem Ziel geblieben, was angesichts des Gegenwinds eine Errungenschaft ist. Die Bank von Japan verfolgt eine Strategie, bei der sie die Zinsstrukturkurve steuert – was nun auch in den USA und Europa diskutiert wird. Was halten Sie davon?Das ist riskant. Was passiert, wenn die Notenbanker aufhören wollen, die Politiker aber darauf bestehen, dass sie weitermachen? Die USA hatten um 1950 einen heftigen Streit darüber, als Präsident Harry Truman die Fed des Verrats bezichtigte, als diese angesichts des Geldüberhangs die Kreditkosten der Regierung nicht mehr niedrig halten wollte. Was Japan betrifft, so hätte die Regierung vielleicht besser daran getan, die Unabhängigkeit der Bank formell auszusetzen, indem es klargestellt hätte, dass die Politiker das Sagen haben. Das hätte wahrscheinlich die Inflation wieder angefacht – wenn auch vielleicht mehr, als sie wollen. In der Krise hat auch der Ruf nach “Helikoptergeld”, also Geldgeschenken der Zentralbank an die Bürger, zugenommen. Wie schätzen Sie das ein?Helikoptergeld ist eine fiskalische Maßnahme, die von der Zentralbank finanziert wird. Die Politiker müssen entscheiden, wer wie viel Geld bekommt. Ex-Fed-Chef Ben Bernanke hat vorgeschlagen, dass die Zentralbank den zu verteilenden Gesamtbetrag kontrollieren könnte. Vielleicht aber birgt das die Gefahr, in eine politische Kontrolle durch die Hintertür abzudriften: Was passiert, wenn die Zentralbank den Kurs stoppen oder sogar umkehren will? Ex-IWF-Chefökonom Olivier Blanchard und andere fordern wegen der niedrigen Zinsen ein Umdenken hinsichtlich der Vorteile und Kosten der Staatsverschuldung. Ist diese nun eine Art “free lunch”?Viele Regierungen sollten die Laufzeit ihrer Schulden verlängern, um sich die niedrigen Zinsen zu sichern. Doch mit zunehmender Verschuldung wird ihre Tragfähigkeit empfindlicher gegenüber kleinen Veränderungen der Kreditkosten. Es gibt immer noch Grenzen dafür, wie viel Schulden ein Land zurückzahlen kann, ohne auf die Inflationssteuer zurückzugreifen. Die geliehenen Mittel müssen dazu verwendet werden, die Produktionskapazität und Effizienz zu verbessern und den Menschen bei der Anpassung und Umschulung zu helfen. Einige Experten befürchten wegen des starken Anstiegs der weltweiten Verschuldung eine neue Finanzkrise. Sind solche Befürchtungen übertrieben?Nein! Deshalb sollten die Banken angesichts der zu erwartenden Ausfälle noch widerstandsfähiger sein. Die Aussetzung von Bankdividenden in Europa war absolut sinnvoll. Zweimal in einem Jahrzehnt sah sich der Westen einer Krise mit zu hoher Verschuldung gegenüber, und die einzig gangbaren Antworten waren, mehr private Schulden (über die Geldpolitik) zu induzieren und mehr öffentliche Schulden zu machen. Unsere zugrunde liegenden makroökonomischen Probleme sind ein anhaltend schwaches Produktivitätswachstum und eine unzureichende Widerstandsfähigkeit – in jüngster Zeit bei wichtigen medizinischen Gütern. Für den Euroraum kommt noch die Fragilität hinzu, die einer unvollständigen Währungsunion innewohnt. Die Lösung liegt im politischen Willen. Die Fragen stellte Mark Schrörs.