DIE ÖKONOMISCHE ORDNUNG ZERBRICHT

Renaissance der großen Erzählungen

Brexit, Trump & Le Pen beflügeln die Suche nach Sinn und Ziel der Geschichte

Renaissance der großen Erzählungen

Von Andreas Hippin, LondonDer französische Philosoph Jean-François Lyotard hat schon 1979 das Ende der “großen Erzählungen” verkündet. Aber das Bedürfnis ist groß, das britische Votum für den EU-Austritt, den Wahlsieg von Donald Trump, den Populismus in Italien, der Matteo Renzi zu Fall brachte, und den Aufstieg von Marine Le Pen in einen großen Zusammenhang zu stellen. Es entspringt dem verbreiteten Wunsch, dass die Geschichte einen Sinn haben und auf ein Ziel zusteuern soll.Die Verlierer der Referenden und Wahlen des abgelaufenen Jahres haben es offenbar besonders nötig, sich um ein einendes Banner zu scharen. Da wird aus der Entscheidung zum Austritt aus einer Staatengemeinschaft oder der Wahl eines republikanischen Präsidentschaftskandidaten schnell ein Aufstand der Alten, Dummen und Ungebildeten gemacht, eine weltweite Gegenbewegung gegen “das System” oder gar gegen den Kapitalismus. Wer die Wählerschaft nicht überzeugen konnte, verleiht sich damit das Image des heroischen Widerständlers gegen den vermeintlichen Rassismus weißer Mitglieder der Unterschicht, die auch gerne mit dem Etikett “Globalisierungsverlierer” versehen werden. Da spielt auch keine Rolle, dass in den USA und Großbritannien Vollbeschäftigung herrscht.Es wäre also möglich, dass uns eine Renaissance der “Grands Récits”, der großen Erzählbögen, ins Haus steht, zumal Philosophen so manches vorschnell verkünden. Für Lyotards US-Kollegen Francis Fukuyama, einen der geistigen Väter der Reagan-Doktrin, war das “Ende der Geschichte” schon 1989 da, ohne dass seine akademische Karriere dadurch beendet gewesen wäre. Doch auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich auf der Weltbühne noch eine Menge getan.Lassen sich die gerne unter dem Oberbegriff Populismus zusammengefassten Ereignisse des Jahres tatsächlich über einen Kamm scheren? Lange vor der Volksabstimmung im Juni waren zwei Drittel der Briten der Meinung, dass sie der EU nicht mehr beitreten würden, wenn sie nicht schon Mitglied wären. Als ihnen David Cameron im Wahlkampf ein Referendum versprach, nutzten sie prompt ihre Chance. Im November 2016 waren, wie schon einen Monat zuvor, gut zwei Drittel der Ansicht, der Brexit sollte nun vollzogen werden – von “Bregret” keine Spur.Tatsächlich hat sich an den Beweggründen für die Mehrheitsentscheidung nichts geändert. Zuwanderung war das zentrale Thema. Die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der EU übt auf Arbeitssuchende aus süd- und osteuropäischen Staaten angesichts der Lage in ihren Herkunftsländern eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Jährlich wandert eine Stadt von der Größe Oxfords oder Canterburys aus der EU zu. Kulturell gibt es mit polnischen Installateuren, litauischen Maurern und ihren Familien keinerlei Probleme.Wer ein Gesundheitssystem wie das britische NHS betreibt, das nicht auf Beitragszahlungen, sondern auf dem Wohnort basiert, wer bedarfsgerecht Plätze in Kindergärten und Schulen oder im öffentlichen Personennahverkehr anbietet, braucht aber Planungssicherheit. Beschränkungen des freien Personenverkehrs gelten in der EU jedoch als unverhandelbar. Die Vorzugsbehandlung, die EU-Bürger in vielen Ausländerangelegenheiten erfahren, verschaffte den Brexit-Befürwortern auch Zulauf aus den Reihen von Migranten, die aus Commonwealth-Staaten ins Vereinigte Königreich gekommen sind. Man kann davon ausgehen, dass jeder Rassist in Großbritannien für den EU-Austritt gestimmt hat. Allerdings sind deshalb bei weitem nicht alle Brexit-Befürworter Rassisten. Im europäischen Vergleich spielen nationaler Kleingeist und Rassismus in Großbritannien ohnehin eine untergeordnete Rolle. In Frankreich ist der Hass auf “die Araber” mit Händen zu greifen. In Deutschland brennen manchmal Flüchtlingsheime.Die Brexiteers hatten auch wirtschaftliche Argumente: “Nur in der Antarktis gibt es weniger wirtschaftliches Wachstum als in der Eurozone”, sagte Boris Johnson, der inzwischen als Außenminister fungiert. Die Wähler sollten nicht davon ausgehen, dass eine Stimme für den Verbleib einer Stimme für den Status quo gleichkomme. In Kontinentaleuropa werde sich die Lage weiter verschlechtern.Das Nein der von den Demokraten enttäuschten Stammwähler zu Hillary Clinton hat mit alledem herzlich wenig zu tun. Auch die Sieger haben nicht viel miteinander gemein – trotz der slapstickhaften Auftritte von Nigel Farage mit Donald Trump. Den Brexiteers ist an freiem Welthandel gelegen. Der US-Präsident in spe setzt dagegen auf Protektionismus. Die italienische Fünf-Sterne-Bewegung ist eher links angesiedelt. Es bedürfte schon einer sehr überzeugenden “Metaerzählung”, um das alles zusammenzuführen.