Richtig Klatschen
Der rituelle Applaus, mit dem sich viele Briten bei den Krankenschwestern und Ärzten bedanken, die während der Coronavirus-Pandemie ihr Leben riskieren, trieb während des Lockdown allwöchentlich hunderttausende Menschen vor die Haustür. Gestern fand das Spektakel “Clap for our Carers” zum zehnten Mal statt. Initiatorin Annemarie Plas findet, dass man aufhören sollte, wenn es am schönsten ist. Der Niederländerin aus dem Londoner Stadtteil Streatham ist nicht entgangen, dass sich die Aktion, die einfach nur Respekt bekunden sollte, zunehmend politisch auflädt. Sie habe den Eindruck, dass sich das Narrativ verändere, sagt Plas. Menschen hätten das Klatschen für andere Zwecke genutzt. Nun will sie verhindern, dass negative Botschaften transportiert werden, und setzt deshalb auf andere Formen der Unterstützung für Mitarbeiter des maroden öffentlichen Gesundheitswesens NHS. Plas zufolge wurden Menschen angefeindet, weil sie sich nicht an den Beifallsbekundungen beteiligen wollten. Überraschend ist das nicht. Die Pandemie wird schon länger für den Kulturkampf genutzt, der das Land seit dem Brexit-Referendum erschüttert. Und so ging es manchen beim wöchentlichen Klatschen vor allem darum, der Regierung die Schuld zu geben.Wie vergiftet das politische Klima ist, zeigt die Posse um Boris Johnsons Berater Dominic Cummings, dem vorgeworfen wird, gegen die Ausgangsbeschränkungen verstoßen zu haben. Egal ob es um die Dämonisierung politischer Gegner oder die Attacken auf Meghan Markle ging: Um die Ethik und Objektivität eines Großteils der britischen Medien war es noch nie besonders gut bestellt. Doch die Angriffe auf den ehemaligen Chefstrategen von “Vote Leave” deuten darauf hin, dass auch vermeintliche Qualitätsmedien bereit sind, fünfe gerade sein zu lassen, wenn es darum geht, den verhassten Tories eins auszuwischen. Cummings war mit seiner Frau ins nordenglische Durham gefahren, um ihren vierjährigen Sohn bei seiner Schwester abzugeben und sich dort zu isolieren, da er fürchtete, sich mit dem Coronavirus angesteckt zu haben. Seine Frau zeigte zwar zunächst keine Symptome von Covid-19, war aber stark angeschlagen. Eine andere Möglichkeit, die Betreuung des Kindes zu gewährleisten, sahen sie nicht. Natürlich hatte Cummings keinen physischen Kontakt mit seinen Familienangehörigen in Durham, er wollte sie ja nicht auch noch anstecken. Viele andere Dinge, die in großen Geschichten behauptet wurden, stimmten wohl ebenso wenig. Die Fahrt war sicher alles andere als eine Spritztour. Cummings hatte sich zuvor an die Bestimmungen gehalten und deshalb nicht am Begräbnis seines Onkels teilgenommen. Seine Versuche, Fehler in der Berichterstattung über ihn auszuräumen, wurden bei seiner Pressekonferenz von fast allen Fernsehjournalisten ignoriert. Sie traten lieber als Vertreter der Anklage auf. Ihn brauchten sie lediglich als Kulisse für ihre Selbstinszenierung als Volkstribune.Die BBC-Journalistin Laura Kuenssberg wurde mit Beschwerden bei ihrem Arbeitgeber überzogen und auf Twitter wüst beschimpft, weil sie eine anonyme Quelle zitierte, die Cummings` Fahrt nach Durham als innerhalb der geltenden Bestimmungen bezeichnete. Die Polizei von Durham, die bei ihren Ermittlungen auf die automatische Nummernschilderkennung von Verkehrskameras zurückgriff, hielt am Ende lediglich für möglich, dass es einen geringfügigen Verstoß gegen die Ausgangsbeschränkungen gegeben haben könnte. Konsequenzen: keine.Es ist wohl kein Wunder, dass Kuenssberg weniger Aufmerksamkeit erhielt als ihre Kollegin Emily Maitlis. Dass Maitlis am Mittwoch nicht mehr das BBC-Nachrichtenmagazin Newsnight moderierte, nachdem sie in der Sendung vom Vortag ihrer Abneigung gegen Cummings freien Lauf gelassen hatte, wurde prompt als Anschlag auf die Pressefreiheit gedeutet – als wäre man in Nordkorea.Cummings hat sich seinen schlechten Ruf selbst zuzuschreiben. Doch das Treibhausklima des Lockdown hat dafür gesorgt, dass er für etwas ans Kreuz geschlagen wird, das man ihm nicht vorwerfen kann: sich um seine Familie gekümmert zu haben. Ohne Plas dürfte das rituelle Klatschen unversöhnlicher werden.