LEITARTIKEL

Rosinen im Kopf

Zu den unsinnigsten Vorwürfen, die man einem Verhandlungspartner machen kann, gehört der, Rosinenpickerei zu betreiben. Schließlich gehört es zum Wesen von Verhandlungen, die eigenen Interessen zu wahren. Der britischen Premierministerin Theresa May...

Rosinen im Kopf

Zu den unsinnigsten Vorwürfen, die man einem Verhandlungspartner machen kann, gehört der, Rosinenpickerei zu betreiben. Schließlich gehört es zum Wesen von Verhandlungen, die eigenen Interessen zu wahren. Der britischen Premierministerin Theresa May wurde in einem an verdiente Journalisten durchgereichten Dokument aus den Brüsseler Amtsstuben sogar doppeltes Rosinenpicken unterstellt. Mit der unbeholfenen Formulierung sollte wohl die besondere Schwere der Schuld unterstrichen werden, die Großbritannien in den Augen der Verfasser dadurch auf sich geladen hat, dass es nicht einfach hinnimmt, was von der EU-Kommission dekretiert wird. Die im von EU-Ratspräsident Donald Tusk vorgestellten Entwurf der Verhandlungsrichtlinien enthaltene Forderung, dass Fangflotten aus Resteuropa weiterhin Zugang zu britischen Fischgründen haben müssten, ist nichts anderes als Rosinenpickerei. Auch der Versuch, Großbritannien ohne Gegenleistung auf eine gemeinsame Sicherheitspolitik zu verpflichten, fällt in diese Kategorie. Es werden sich wohl nicht viele Freiwillige melden, um Staaten zu verteidigen, die sich zuvor alle Mühe gegeben haben, ihnen und ihren Familien einen möglichst schlechten Abgang aus der EU zu bereiten. Vom Ausgang der Austrittsgespräche hängt also viel mehr ab als die Höhe der britischen Einfuhrzölle für Rindfleisch oder Milchprodukte. Umso größer müsste das Interesse aller Beteiligten sein, die Atmosphäre nicht weiter zu vergiften. Derzeit geht es jedoch in eine ganz andere Richtung, allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz. Die Rosinen in den Köpfen der für die Verhandlungsführung Verantwortlichen bringen sie dazu, hohe politische Risiken einzugehen. In Großbritannien hat es bislang keinen Meinungsumschwung gegeben. Bei einem weiteren Referendum dürfte sich eher eine noch größere Mehrheit für den Brexit aussprechen. Aber in Brüssel glaubt man offenbar, den Austritt des Vereinigten Königreichs aus Zollunion und gemeinsamem Markt wenn schon nicht verhindern, so doch rückgängig machen zu können. Neben der Bereitschaft, den Nordirlandkonflikt dafür zu instrumentalisieren, zeugt davon auch eine Evolutionsklausel in den Verhandlungsrichtlinien, in der es heißt, in der Herangehensweise der EU spiegele sich nur wider, was sich aus den von der britischen Regierung gezogenen roten Linien ergebe – sprich: Austritt aus Zollunion und gemeinsamem Markt, Ende der juristischen Oberhoheit des Europäischen Gerichtshofs. Sollten diese Linien verblassen, sei man bereit, das bisherige Angebot zu überdenken. Die Klausel ist ein kaum verbrämter Aufruf an Freunde Brüssels in der konservativen Partei wie den ehemaligen Kostgänger Kenneth Clarke, mit der Opposition gegen die Regierung zu stimmen, wenn es um die Zollunion geht. Vertrauensbildende Maßnahmen sehen anders aus. May würde eine solche Niederlage im Unterhaus nur schwer verkraften. Sollte das ihren parteiinternen Rivalen Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg Auftrieb geben, hätte sich der versteckte Aufruf zur Rebellion als Rohrkrepierer sondergleichen erwiesen.Mit der tickenden Uhr verhält es sich ähnlich wie mit dem Rosinenpicken. In der Regel wird in Verhandlungen von der Seite auf sie gezeigt, die selbst auf Zeit spielt. Nun ist es allerdings wirklich an der Zeit, mit ernsthaften Gesprächen zu beginnen, will man einen ungeordneten Brexit noch vermeiden. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder sollten das selbst in die Hand nehmen, bevor die Juristen der Kommission die Verhandlungen mit ihrem Organisationshandeln vollends gegen die Wand fahren. Die britische Seite muss sich von nun an auf den Handel nach WTO-Regeln vorbereiten, sonst bleibt ihr dafür im Falle eines Scheiterns der Gespräche nicht ausreichend Zeit. Sollte sie am Ende gezwungen sein, schlechte Konditionen zu akzeptieren, weil sie es – wie schon beim EU-Referendum vor zwei Jahren – nicht für nötig hielt, einen Plan B zu entwickeln, wäre damit keinem gedient. Nur ein einvernehmlicher Deal hat langfristig Bestand. Darauf sollte man in Europa gemeinsam hinarbeiten. Sonst könnte am Ende noch der Eindruck entstehen, dass es sich bei der EU nicht um einen freiwilligen Zusammenschluss von Staaten handelt, sondern um eine Zwangsgemeinschaft, die Abtrünnige mit aller Härte bestraft. Vielleicht entwickelt sich daraus ja sogar eine ernsthafte Debatte darüber, wie es mit Europa weitergehen kann.—–Von Andreas HippinWill man einen ungeordneten Brexit vermeiden, sollte man ernsthaft verhandeln. Staats- und Regierungschefs könnten das besser als Juristen.