NOTIERT IN MOSKAU

Russinnen und Russen auf dem Land

In Moskau, einer der größten Metropolen Europas, sind die Einwohner Landmenschen. Am sichtbarsten wird das freitags ab zwölf Uhr Mittag, wenn sich der Verkehr zu stauen beginnt, weil sich Unmengen der etwa 12,5 Millionen Einwohner - knapp 9 % der...

Russinnen und Russen auf dem Land

In Moskau, einer der größten Metropolen Europas, sind die Einwohner Landmenschen. Am sichtbarsten wird das freitags ab zwölf Uhr Mittag, wenn sich der Verkehr zu stauen beginnt, weil sich Unmengen der etwa 12,5 Millionen Einwohner – knapp 9 % der Bevölkerung des gesamten Landes – in Richtung Umland begeben. Dieser Gürtel um die Hauptstadt ist gut und gern 200 Kilometer breit, nach russischen Maßstäben keine Distanz, die von allwöchentlichen Fahrten in die dortigen Schrebergärten, Datschen und größeren Landhäuser abhalten würde. Alles, nur ja keine Minute zu lange in der Stadt und bloß nicht die ganze Woche, lautet die Devise. Dass sie an vielen Stellen längst sehr lebbar und von ihrem Angebot her komfortabel geworden ist, ändert daran nichts.Mit der Corona-Pandemie, von der Russland im Allgemeinen und Moskau im Speziellen übermäßig stark getroffen sind, hat nun aber auch die Landverliebtheit eine neue Qualität und stellenweise eine Umdeutung erfahren. Zwar können die Russen mit der großflächigen Verlegung der Arbeit ins Homeoffice nun der Stadt wochen- bis monatelang den Rücken kehren. Allerdings werden gleichzeitig auch die Mängel am Land, die bei Wochenendbesuchen leicht zu kaschieren waren, offensichtlich und virulent. Wie sich beschäftigen, wo doch in den zersiedelten Gegenden weit und breit außer dem eigenen Garten und viel Natur kein Angebot da ist? Was tun, wenn man dringend einen Arzt braucht, wo doch medizinische Versorgung und Infrastruktur heillos unterentwickelt sind, weil Geld und Wille zum Auf- und Ausbau über Jahrzehnte nur in der Stadt vorhanden waren? Mit wem sich treffen, wo doch die Freunde aus der Stadt plötzlich 500 Kilometer entfernt am gegenüberliegenden Rand des fetten Gürtels “wohnen”? Und wie plötzlich in aller Eile all das in der Landbehausung instand setzen, das bislang nicht groß gestört hat? Hier funktioniert eine Herdplatte nicht, dort ein Heizkörper. Und bei Bekannten tropft es an einer Stelle der alten Datscha durchs Dach in einen Raum.Ohnehin ist die infrastrukturelle Diskrepanz zwischen Stadt und Land eines der fundamentalsten Probleme Russlands, mit dem es heute massiv konfrontiert ist. Dabei ist der Gürtel um Moskau noch das beste Beispiel dafür, wie der Rückstand gegenüber der Stadt sukzessive wettgemacht wird – und sei es nur dadurch, dass hier wie dort moderne Mautstraßen die heillos überfüllten alten Chausseen entlasten. Jenseits davon wird es richtig problematisch – davon können diejenigen ein Lied singen, die in der Landwirtschaft tätig sind und neben dem Mangel an einer brauchbaren Grundversorgung auch kaum verlässliche Mitarbeiter finden. Dem großen Schriftsteller Nikolai Gogol, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte, wird die Aussage zugeschrieben, dass Russland an zwei Hauptübeln leide: den Straßen und den Idioten. Herman Gref, langjähriger Wirtschaftsminister, seit 2007 Chef der landesweit größten Bank, Sberbank, und ganz generell einer der smartesten und mutigsten Vertreter des gegenwärtigen Establishments, hat dies einmal folgendermaßen in die Gegenwart übersetzt: Russlands Hauptübel seien eine schlechte Infrastruktur und ein schlechtes Management. (Und was die Umsetzungsschwächen seiner Landsleute betrifft, so griff Gref vor einiger Zeit auf einem Wirtschaftsforum zu folgendem, wenig bekannten russischen Witz, in dem Hasen, die die ständigen Attacken der Wölfe satt hatten, die Eule um Rat fragen. “Verwandelt euch in Igel!”, rät diese. Voller Euphorie über die geniale Idee laufen die Hasen nach Hause. Als sie sich ebendort ratlos fragen, wie sie das anstellen sollen, konsultieren sie abermals die Eule. “Ich bin nur der Stratege”, sagte diese: “Um die Taktik müsst ihr euch selbst kümmern.”)Zurück zum Homeoffice außerhalb von Moskau. Das Ehepaar, bei dem es durchs Dach in die Datscha tropft, hat sich noch nicht durchringen können, das Problem zu beheben. Sie beschäftige ohnehin ein anderes, erzählt die Frau. Beim Radfahren habe sie nun schon zweimal wochentags ihre Chefin getroffen, die zufällig auch in der Nähe eine Datscha habe. Sie würde nur kurz Luft schnappen, sagte die Chefin. Letztlich aber glauben nun beide voneinander, dass die andere nichts arbeite.