Russland braucht die EU wie die Luft zum Atmen
Von Eduard Steiner, Moskau Der Kreml tut sich schwer mit dem Konstrukt der EU. Nicht zufällig wird es daher medial gern verächtlich gemacht. Aber alle wissen, dass sie ein gutes Verhältnis zu ihm brauchen: Denn niemand kauft Russland so viele Waren ab. Und niemand liefert so viel Technologie und Know-how.Ein Satz sagt mehr als tausend Reden. Geäußert hat ihn Russlands Präsident Wladimir Putin vergangene Woche. “Mit den Türken ist es leichter zu arbeiten als mit den Europäern”, sagte er. Konkret gemeint war der Bau von Gaspipelines. Während nämlich die neue Turk-Stream-Pipeline in die Türkei bald fertig ist, hakt es bei der zweiten Ostseegaspipeline Nord Stream 2 nach Deutschland nach wie vor. Für die Russen ist klar, dass vor allem die USA schuld an der Verzögerung sind, auch unterstellen sie ihnen Einfluss auf Europa in der Sanktionenfrage.Europas Unabhängigkeit ist für den Kreml zentral. “Für Russland ist es wichtig, dass Europa ein starker, zuverlässiger und selbständiger Partner ist”, sagte Putin vor drei Jahren zu Journalisten. Und fügte hinzu, dass man an einem starken, geeinten Partner interessiert sei.In solchen Aussagen schwingt freilich immer mit, dass man genau diese Stärke und Einheit vermisst. Man nimmt daher politisch die USA ernster als Brüssel, zumal man deren geopolitischen Anspruch und kürzere Entscheidungsprozesse besser versteht, auch wenn man Washington weniger mag. Aufgrund dieser fehlenden Einigkeit in Europa – oder vielleicht doch aufgrund des Bedürfnisses nach einer Spaltung – nutzt der Kreml jede Ritze innerhalb der EU, um seine Interessen über die Kontakte zu Einzelstaaten durchzusetzen. Am offensichtlichsten wird das bei Pipelines wie Nord Stream 2, wo man mit einigen europäischen Partnerkonzernen Fakten schaffen will. Das verwundert nicht, schließlich ist neben den Öllieferungen der Gasexport nach Europa für Russland überlebenswichtig. Nirgends verdient Gazprom – der größte Steuerzahler – mehr als in Europa. Wichtigster HandelspartnerGenerell bleibt die EU Russlands wichtigster Handelspartner, auch wenn der EU-Anteil an Russlands gesamtem Außenhandel im vergangenen Jahrzehnt – zuletzt stark wegen der Sanktionen – von über 50 % auf 43,5 % zurückgegangen ist. Russland erzielt dabei meist einen Überschuss. So sind im ersten Quartal 2019 fast 50 % der russischen Ausfuhren in die EU gegangen, während nur ein Drittel des Imports von dort stammte. Aus Sicht der EU ist Russland der drittgrößte Warenlieferant und der viertgrößte Exportmarkt.Man weiß in Russland, dass man Technologie und Know-how aus Europa braucht. Europas alte Funktion eines maßgeblichen Horizonts, in dessen Richtung man sich selbst entwickeln will, wurde inzwischen jedoch diskreditiert. Mit einer Mischung aus Schadenfreude und Angstlust wird medial gern kolportiert, dass Europa an jedem Problem bald zerbricht. Die nüchternen Rechner haben davor wirklich Angst.