NOTIERT IN MOSKAU

Russlands Bosse strömen in den Fight Club

Man kann relativieren, wie man will: Aber stilistisch unterscheidet sich Russland von Europa doch deutlich. Ein öffentlicher Aufruf zum Duell etwa wäre im Westen schwer denkbar. In Russland hingegen kommt es gar nicht so selten vor, dass namhafte...

Russlands Bosse strömen in den Fight Club

Man kann relativieren, wie man will: Aber stilistisch unterscheidet sich Russland von Europa doch deutlich. Ein öffentlicher Aufruf zum Duell etwa wäre im Westen schwer denkbar. In Russland hingegen kommt es gar nicht so selten vor, dass namhafte Personen aus dem Establishment einen Gegner mittels Videoclip über Youtube dazu auffordern. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert ist der Grund dafür meist gar nicht eine Frau. So im Fall von Viktor Solotow, dem Chef der Nationalgarde. Weil er im Sommer 2018 vom populärsten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny beschuldigt worden war, bei der Beschaffung von Lebensmitteln für seine Truppe die Preise zu manipulieren, rief er ihn zum Zweikampf auf und versprach, “ein saftiges Kotelett” aus ihm zu machen. Am Ende kam es dann doch nicht dazu.Als General hat er jedenfalls schon von Berufs wegen die Voraussetzungen für einen körperlichen Schlagabtausch. Andere haben sie in Eigeninitiative erworben. Der 54-jährige und 2,03 Meter große Michail Prochorow etwa, Ex-Chef des weltweit größten Palladiumproduzenten Norilsk Nickel und des Goldkonzerns Polyus Gold. Von jung auf trainierte der laut “Forbes”-Magazin zwölftreichste Russe Kickboxen und Karate. Und als vor Jahren zwei Männer seine Schwester beleidigten, drohte er, ihnen, so sie sich nicht entschuldigen, “die Fresse zu polieren. Ihr wisst, dass ich das kann.” Über diese Fertigkeiten verfügen im rauen russischen Establishment auffällig viele. Und zwar so viele wie in keinem anderen Land der Welt, wie der Eliteforscher Alexej Muchin, Chef des Moskauer Zentrums für Politische Information, im Gespräch erklärt. Er muss es wissen, schließlich ist er selbst Träger des vierten Meistergrades (Dan) im Aikido.Sieht man sich allein die “Forbes”-Liste der reichsten Unternehmer an, so finden sich dort auffällig viele Kampfsportler. Der 59-jährige Andrej Gurjew etwa, Hauptaktionär des börsennotierten Phosagro-Konzerns, Europas größten Herstellers von Phosphor-Düngemitteln, ist Judokämpfer und staatlich ausgezeichneter Trainer. Auch der 51-jährige Alexander Skorobogatko beherrscht Judo und Sambo, eine vom Sowjetmilitär kreierte Kampftechnik. Skorobogatko, einst Hauptanteilseigner von Russlands größtem Hafenbetreiberunternehmen NCSP im Schwarzmeerhafen Novorossijsk, das er 2007 an die Börse brachte, ist heute Immobilienhai und Anteilseigner des Moskauer Flughafens Scheremetjewo.Oder der Judo- und Sambotrainer Andrej Skotsch. Der Metallindustrielle und Vater von zehn Kindern ist laut “Forbes”-Magazin 5,2 Mrd. Dollar schwer und zudem Parlamentsabgeordneter.Aber nicht nur die Unternehmer sind kampfsportaffin. Die Popularität des Budo spiegelt sich auch auf politischer Ebene wider. Im Moskauer Politolymp ist der 63-jährige Juri Trutnew mit seinem schwarzen Karategürtel mittlerweile Träger des sechsten von zu Lebzeiten möglichen neun Meistergraden. Beruflich verantwortete Trutnew lange als Minister die staatlichen Rohstoffressourcen, war Vizepremier, ehe er Präsidentenvertreter im Fernen Osten wurde. Im russischen “Verband für Kampfkünste” präsidiert er gemeinsam mit keinem Geringeren als Sergej Kirijenko.Der 57-jährige Kirijenko, einst aufgrund seines Knabengesichts “Kinderüberraschung” genannt, als er 1998 kurz Regierungschef wurde, ist heute Vizestabschef im Kreml und Vertreter des liberalen Lagers gegen die Übermacht der Hardliner. Sportlich trägt er den fünften Dan in Aikido. Über ihm steht nur der Judoka Wladimir Putin, seit kurzem Träger des neunten Dan.Ist Putin etwa der Grund, dass sich seine Untertanen so zahlreich ins Training stürzen? Die Ansichten darüber divergieren. Für die Brüder Rotenberg hat es sich jedenfalls gelohnt, dass einer von ihnen mit Putin in der Jugend im Petersburger Judoclub trainierte. Längst erhält Arkadi Rotenberg, heute geschätzt 2,6 Mrd. Dollar reich, die meisten staatlichen Bauaufträge – darunter den milliardenschweren Bau der Brücke auf die annektierte Krim.Nur zu einem politischen Brückenbau in den Westen hat der Kampfsport nicht beigetragen. Vielleicht weil einfach die Sparringpartner fehlen. Einzige Ausnahme: Litauens 63-jährige Ex-Präsidentin und vormalige EU-Haushaltskommissarin Dalia Grybauskaite. Sie trägt den schwarzen Gürtel in Karate.