BREXIT

Schein und Sein

Die Schlussphase der Gespräche über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU wird noch für jede Menge Schlagzeilen sorgen. Das Wochenende hat bereits reichlich Theaterdonner geliefert. Der britische Verhandlungsführer David Frost...

Schein und Sein

Die Schlussphase der Gespräche über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU wird noch für jede Menge Schlagzeilen sorgen. Das Wochenende hat bereits reichlich Theaterdonner geliefert. Der britische Verhandlungsführer David Frost ließ es in seinem ersten großen Zeitungsinterview ordentlich krachen. Premierminister Boris Johnson legte gestern nach, um einen stimmungsvollen Auftakt der heute beginnenden achten Verhandlungsrunde zu gewährleisten. Und die “Financial Times” will erfahren haben, dass Teile der Austrittsvereinbarung durch ein neues Gesetz außer Kraft gesetzt werden sollen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass an einem radikalen Bruch zwischen Großbritannien und seinem größten Handelspartner kein Weg mehr vorbeiführt.Doch wie so oft unterscheiden sich Schein und Sein. In wesentlichen Punkten ist man sich auf der Beamtenebene näher gekommen. Eine Landezone für eine Einigung zeichnet sich ab. Es fehlt bislang nur der politische Wille, die möglichen Kompromisse auch zu akzeptieren. Aber das Bedürfnis, ein katastrophales Jahr mit einem politischen Erfolg abzuschließen, dürfte beide Seiten zusammenbringen. Johnson mag noch ein wenig auf die Pauke hauen, doch braucht er einen Deal nötiger denn je. Ohne Freihandel mit Resteuropa droht im Falle eines weiteren schottischen Unabhängigkeitsreferendums ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs. Die offenkundige Inkompetenz der Regierung im Umgang mit der Coronavirus-Pandemie hat im Land für erheblichen Unmut gesorgt. Zudem hat Labour unter der Führung von Keir Starmer erstaunlich schnell in die politische Mitte zurückgefunden.Es muss sich nur noch ein Weg finden, der London und Brüssel gleichermaßen ermöglicht, sich als Gewinner zu präsentieren. Die Briten könnten zusichern, dass sie die bereits übernommenen europäischen Standards beibehalten. Sie wollen lediglich theoretisch die Möglichkeit haben, Dinge zu ändern, die sie in der Praxis niemals ändern würden. Die EU rückte zuletzt selbst in der Fischereipolitik von ihren Maximalforderungen ab und verlangte auch keine Rolle für den Europäischen Gerichtshof mehr. Viel spricht dafür, dass kurz vor Jahresschluss ein schlankes Freihandelsabkommen präsentiert wird – verbunden mit einer Übergangsphase, die lange genug ist, um eine sanfte Landung zu gewährleisten, während über Themen wie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik weiterdiskutiert werden kann.