Schwellenländer-Aktien erfordern noch Geduld
Von Christopher Kalbhenn,
Frankfurt
Mit einer leichten Outperformance sind die Aktienmärkte der Schwellenländer in das Jahr 2022 gestartet. Ihr Sammelindex MSCI Emerging Markets hat um 0,5% zugelegt, während der Industrieländerindex MSCI World 3,6% abgegeben hat. Angesichts des Umfelds ist die relative Stabilität bemerkenswert. Schließlich zügelt der Ukraine-Konflikt den für Schwellenländer wichtigen Risikoappetit der Investoren. Vor allem aber hat sich die geldpolitische Wende in den Industrieländern beschleunigt. Die Europäische Zentralbank schließt Leitzinserhöhungen in diesem Jahr nicht mehr aus, womit noch vor kurzem kaum zu rechnen war, und von der US-Notenbank Fed werden 2022 mittlerweile bis zu sieben Zinsschritte erwartet. Damit kontrastiert die Entwicklung der Schwellenländer deutlich mit den Turbulenzen, die 2013 von der Ankündigung der Fed, ihre Anleihekäufe zu reduzieren, ausgelöst wurden.
Für die in Dollar rechnenden Investoren – der MSCI Emerging Markets lautet auf die US-Währung –, die an den globalen Märkten die Musik machen, ist das jedoch ein schwacher Trost. Denn die etwas stabilere Entwicklung macht nur einen kleinen Teil der Underperformance des zurückliegenden Jahres wett, in dem der Schwellenländerindex 4,5% abgegeben und sein Industrieländer-Pendant um 20,5% zugelegt hat. Erst recht gilt dies für die zurückliegenden zehn Jahre, in denen die Schwellenländer auf Ebene des Index mit einem Plus von 17,5% quasi auf der Stelle getreten haben, während Industrieländeraktien 133,5% gewonnen haben. Aus US-Investorensicht wird daher auch von einer „verlorenen Dekade“ gesprochen.
Es gibt durchaus Argumente für eine Outperformance in diesem Jahr. Auch wenn die Erwartungen an das globale Wachstum zurückgeschraubt worden sind, gehen Experten immer noch von rund 4% aus. Die wenig berauschende Entwicklung des zurückliegenden Jahres war zu einem großen Teil auf das Schwergewicht China zurückzuführen, das unter der Regulierungskampagne, der Krise der Immobilienbranche und Wachstumssorgen litt. Nachdem all dies weitgehend eingepreist ist, könnte Aufwärtspotenzial bestehen. Überdies sind die Bewertungen der Schwellenländer relativ zu den Industrieländern deutlich günstiger geworden. Das gleitende Zwölfmonats-KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis) des MSCI Emerging Markets ist seit Januar 2021 um 21% auf aktuell 12,1 gesunken, dasjenige des MSCI World um 13% auf 18,2. Der KGV-Rückstand der Schwellenländer ist damit von 5,6 auf 6,3 gestiegen.
Drohende Dollar-Aufwertung
Allerdings ist fraglich, ob in Dollar rechnende Investoren zu einem Zeitpunkt, in dem die Fed stärker als noch vor kurzem erwartet auf die Bremse treten wird und das Ausmaß der Zinsanhebungen noch nicht eingeschätzt werden kann, ihre Schatullen für die Schwellenländer öffnen werden. Schließlich könnte eine die Performance der Schwellenländer schmälernde Dollar-Aufwertung ins Haus stehen.
Die Erinnerung an die Erschütterungen des Taper Tantrum 2013 sollte allerdings kaum eine Rolle spielen. Schließlich erwischte die Fed die Märkte seinerzeit auf dem falschen Fuß, während die aktuelle geldpolitische Wende sorgfältig und klar vorab kommuniziert wurde, auch wenn die zuletzt noch „falkenhafteren“ Ankündigungen unerwartet kamen. Die Zentralbanken der Schwellenländer müssen nun nicht wie seinerzeit beginnen, ihre Leitzinsen stark zu erhöhen. Sie haben das – mit der absurden Ausnahme Türkei – bereits mit Blick auf die anziehende Inflation getan, was zudem für das Vertrauen der Investoren förderlich ist. Die Schwellenländer sind ferner in einer besseren Verfassung als 2013. Insgesamt gesehen weisen sie einen Leistungsbilanzüberschuss auf. Eine neue Krise der Schwellenländer steht somit nicht ins Haus. Allerdings werden sich die Investoren wahrscheinlich noch gedulden müssen, was eine nennenswerte Outperformance des MSCI Emerging Markets betrifft.