Selbstreflexion in der Coronakrise
ms – Eigentlich sollte 2020 für die Europäische Zentralbank (EZB) das Jahr der großen Selbstreflexion sein. Kaum in Amt und Würden gekommen, setzte EZB-Präsidentin Christine Lagarde Ende 2019 sogleich eine großangelegte Strategieüberprüfung durch – die erste seit dem Jahr 2003. Damit sollten auch die Lehren aus der Weltfinanzkrise 2008/2009 gezogen werden, die an Grundfesten der Geldpolitik gerüttelt hatte. Sie wolle “jeden Stein umdrehen”, sagte Lagarde, die erste Frau auf dem EZB-Chefposten.Die Corona-Pandemie und die dadurch ausgelöste Jahrhundertrezession machten Lagarde & Co. einen Strich durch die Rechnung. Die Euro-Hüter mussten wieder in den Krisenmodus schalten. Ironie der Geschichte: Lagarde, die stets gehofft hatte, kein Versprechen wie das “Whatever it takes” ihres Vorgängers Mario Draghi abgeben zu müssen, musste nicht nur genau das tun – sondern im Unterschied zu Draghi, dem Worte gereicht hatten, auch liefern: Im März legte der EZB-Rat in einer spätabendlichen Notfallschalte das Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme) auf, das inzwischen die gigantische Summe von 1,85 Bill. Euro erreicht hat. Die zweite Aufstockung folgte erst vor wenigen Tagen Mitte Dezember, im Zuge eines ganzen Maßnahmenbündels.Die Strategieüberprüfung will der EZB-Rat nun 2021 forcieren. Im Mittelpunkt steht eine Neudefinition des mittelfristigen Inflationsziels von unter, aber nahe 2 %. Derzeit scheint es auf ein Punktziel von 2 % hinauszulaufen, mit einer explizit symmetrischen Auslegung – dass also ein Unterschreiten dieses Werts genauso bekämpft wird wie ein Überschreiten. Ein sehr strittiges Thema ist die Rolle der EZB im Kampf gegen den Klimawandel. Lagarde dringt auf eine stärkere Rolle und liebäugelt mit einer “grünen” Geldpolitik. Andere wie Bundesbankpräsident Jens Weidmann sind zurückhaltender. Ergebnisse der Überprüfung soll es in der zweiten Jahreshälfte 2021 geben – sofern die Pandemie dies zulässt.