GASTBEITRAG

Sind die Negativzinsen ein Missverständnis?

Börsen-Zeitung, 11.9.2019 Seit fünf Jahren gibt es im Euroraum negative Zinsen. Sie gelten für Banken, haben aber fühlbare Auswirkungen auf das gesamte Finanzwesen. Jahrelang wurde diese Situation erduldet. Dahinter stand die Hoffnung, negative...

Sind die Negativzinsen ein Missverständnis?

Seit fünf Jahren gibt es im Euroraum negative Zinsen. Sie gelten für Banken, haben aber fühlbare Auswirkungen auf das gesamte Finanzwesen. Jahrelang wurde diese Situation erduldet. Dahinter stand die Hoffnung, negative Zinsen nur als Notmaßnahme von begrenzter Dauer ertragen zu müssen. Jetzt aber wird offenbar nicht mehr über das ersehnte Ende, sondern im Gegenteil sogar noch über die Verschärfung dieser Maßnahme nachgedacht. Kein Wunder, dass die kontroverse Debatte über diese Sondermaßnahme neu entflammt und das gesamte Konstrukt der negativen Zinsen öffentlich zusehends in Frage gestellt wird.Im Zentrum steht dabei die schon 2014 gefällte Entscheidung der EZB, ihren Einlagezins für Geschäftsbanken in den negativen Bereich zu drücken – derzeit beträgt er minus 0,4 %. Dabei ist die Kombination von Zins und Negativwert ein Widerspruch in sich. Seit biblischer Zeit ist der Zins die Vergütung für den Geldgeber. Eine “negative Vergütung” ist aber keine solche mehr – und kommt sie aus dem Staatssektor, zu welchem trotz politischer Unabhängigkeit auch die Zentralbank gehört, heißt sie “Steuer”.Man muss wissen, dass sich die Banken dieser Steuer auf die Einlage von Geldern bei der Zentralbank nicht vollständig entziehen können. Denn ihr Liquiditätsmanagement funktioniert reibungslos nur über einen gesamtwirtschaftlichen Liquiditätspuffer. Den wiederum kann das Bankensystem nur bei der Zentralbank deponieren. Die daraus resultierenden Belastungen sind immens. Sie betragen pro Tag 20 Mill. Euro für alle Banken in Europa, wobei der Löwenanteil auf die Kreditinstitute in Deutschland entfällt. Diese Abgaben fließen, wie normale Steuern, über die Zentralbankgewinne in die Staatshaushalte der Euroländer.Das Konstrukt der negativen Zinsen soll der Wirtschaft helfen, aber liegt dem Ganzen womöglich ein Missverständnis zugrunde? Zum einen ist der Negativzins als Bestrafung der Geldhaltung bei Banken gedacht. Die Banken sollen dazu angehalten werden, ihre Mittel als Kredite in den Wirtschaftskreislauf einzuspeisen, um diesen immer wieder neu zu beleben. Bei der Kreditvergabe spielt jedoch die vorhandene Menge an Liquidität keine Rolle. Es ist nicht so, dass Banken das vom Kunden erhaltene Geld weitergeben; vielmehr können sie selber Geld schöpfen, indem sie Kreditnehmern gegen entsprechende Sicherheiten Guthaben zur Verfügung stellen. Die beiden wichtigsten Faktoren für die Kreditvergabe sind Kapital und die Risiko-Ertrags-Kalkulation. Durch die Bestrafung von Geldhaltung entsteht nicht, oder allenfalls höchst indirekt, mehr Kredit.Zum Zweiten heißt es, die negativen Zinsen am kurzen Ende sollen die Zinskurve steiler machen, weil eine steilere Zinskurve eine Gewinnquelle für Banken darstelle. Was auf dem Reißbrett richtig sein mag, stellt sich in der Realität als ziemlich falsch heraus: Der Weg von null zu negativ bedeutet nämlich nicht, dass die Banken das Geld billiger bekommen, sondern im Gegenteil dafür bezahlen müssen. Obgleich als “geometrische Wohltat” gemeint, ist der Negativzins schlicht eine Zusatzbelastung.Aber viel wichtiger noch: in der Marktwirtschaft gibt es keinen negativen Zins. Niemand verleiht freiwillig Geld, um am Ende weniger zurückzubekommen. Der Zins ist die Vergütung der Zeit, und Zeit ist bekanntlich ein knappes Gut. Zentralbanken sollten – außer bei Marktversagen – die Wirtschaft mit marktkonformen Instrumenten steuern, aber ein negativer Zins ist kein marktwirtschaftliches Instrument. Das Überschreiten des marktwirtschaftlichen Rahmens macht das eigentliche Novum des Phänomens der “negativen Zinsen” aus.Der Zins gilt zu Recht als einer der wichtigsten Preise der Volkswirtschaft. Letztendlich ist er eine Vergütung für die Geduld beim Sparen; er belohnt also die Vorsorge für die Zukunft. Angesichts der vielen sozialen, demografischen und auch umweltpolitischen Herausforderungen in unserer Volkswirtschaft sollten wir genau überlegen, ob es richtig ist, die Zukunftsvorsorge finanziell zu bestrafen. Widerspruch zur KlimapolitikZu denken geben sollte auch das Argument, dass jetzt schnell mehr Nachfrage gebraucht wird, was kurzfristig vor allem gesteigerten Konsum bedeutet. Die Gleichung “Wohlfahrt = Summe des Konsums” ist einer der größten Irrungen der Volkswirtschaftslehre. Konsum, Konsum, Konsum – dieser Dreiklang, verbunden mit der Globalisierung bei der Herstellung und Transport von Konsumgütern, dürfte eine der Hauptursachen des Klimawandels sein. Die Klimapolitik braucht jedoch einen weiten Blick in die Zukunft. Vergütet werden muss derjenige, der sparsam mit Ressourcen umgeht, Vorsorge trifft und sich von langfristigem Denken leiten lässt. Ein “negativer Zins”, um kurzfristig noch mehr Nachfrage, Konsum und Ressourcenverbrauch zu erzeugen, steht daher nicht nur der Finanzstabilität, sondern auch dem aktuellen Bemühen der Klimapolitik diametral entgegen. *) Der Autor war bis 2013 in leitender Funktion in der EZB tätig, zuletzt im Rang eines Generaldirektors. Im Jahr 2017/2018 leitete er auf Einladung der EU-Kommission die hochrangige Expertenkommission für Nachhaltigkeit im Finanzwesen. Christian Thimann, Vorsitzender der Geschäftsführung der Athora Deutschland Holding