NOTIERT IN TOKIO

So nonchalant demokratisch

Ein Kanzlerwechsel ohne Neuwahl ist in Deutschland eine komplexe Angelegenheit, schon dem Versuch haftet der Geruch des Undemokratischen an. Daher wundere ich mich über die Nonchalance, mit der Japan gerade einen neuen Premierminister bestimmt, weil...

So nonchalant demokratisch

Ein Kanzlerwechsel ohne Neuwahl ist in Deutschland eine komplexe Angelegenheit, schon dem Versuch haftet der Geruch des Undemokratischen an. Daher wundere ich mich über die Nonchalance, mit der Japan gerade einen neuen Premierminister bestimmt, weil der alte zu krank zum Weitermachen ist. Dafür muss die Liberaldemokratische Partei (LDP), die nach einem alten Bonmot weder liberal noch demokratisch ist, nur einen neuen Vorsitzenden bestimmen. Dann wählen die LDP-Parlamentarier den Parteichef zum Premier, fertig. (Merkposten: Die LDP regiert Japan bis auf zwei kurze Pausen seit 1955.)Je nach den Umständen dürfen die Abgeordneten und die Parteimitglieder oder verschiedene Kombinationen davon den Vorsitzenden wählen. Shinzo Abe zum Beispiel erhielt bei seinem Sieg vor acht Jahren die (wichtigere) Mehrheit der Parlamentarier-, sein Rivale Shigeru Ishiba die Mehrheit der Mitgliederstimmen. Damit Ishiba auch diesmal nicht gewinnt, haben die Funktionäre schnell festgelegt, dass nur die Abgeordneten und einige regionale Parteivertreter wählen. Innerhalb der LDP-Parlamentsfraktion dirigieren wiederum die Führer der sieben Faktionen das Wahlgeschehen. Die meisten dieser festen Gruppen sind Überbleibsel aus der Verschmelzung verschiedener Parteien zu der Mega-Volkspartei, die die LDP heute darstellt.Ein aussichtsreicher Kandidat wie jetzt Yoshihide Suga sichert sich die Unterstützung der wichtigsten Gruppen. Im Gegenzug erhoffen sich die Abgeordneten nach genügender Verweildauer im Parlament einen Ministerposten. Das Amt des Premiers ist oft den Angehörigen politischer Dynastien vorbehalten, so wie Abe, dessen Großonkel und Großvater schon Japan regierten. Im Schnitt alle zwei Jahre hat Japans Demokratie seit 1885 den Regierungschef ausgewechselt. Doch der Staat funktionierte dank der Ministerialbürokratie tadellos.In der Sichtweise von Zynikern tanzen Japans Politiker nämlich letztlich als Marionetten des Beamtenapparates. Ganz falsch ist das nicht: Die Reformer der Meiji-Zeit entwarfen Japan als effizienten Verwaltungsstaat. Die Beamten regierten auf nationaler Ebene, viele Premierminister kamen aus der Verwaltung. Unterdessen kümmerten sich die Politiker um die Bürger in ihren Wahlbezirken. Die Nation sollte gedeihen, der Wettbewerb pluralistischer Ideen störte da nur.Das Misstrauen gegen spalterische Politiker ist der Grund, warum der Wahlkampf bis heute stark eingeschränkt abläuft. Die Kandidaten dürfen nur per Handzettel, auf Plakaten und mit Lautsprecherwagen für sich werben, und dies erst in den zwei Wochen vor dem Wahltermin. Fernsehen und soziale Medien sind als Werbekanäle verboten. Die knappe Zeit und die geringen Mittel reichen gerade, sein Gesicht und seinen Namen bekannt zu machen. Inhalte spielen keine Rolle, stellte der in Japan tätige PR-Berater Jochen Legewie fest. *Die zentrale Autorität, die der Journalist Karel van Wolferen 1989 als das “Rätsel der japanischen Macht” bezeichnete, war früher eine gleich denkende Beamtenelite. Zusammen mit Unternehmensgruppen hielt sie die Staatsmaschinerie am Laufen, um Wohlstand zu erzeugen. Jedoch missbrauchte die Ministerialbürokratie ihre Macht für eigene Privilegien. Der Apparat gebar Hunderte halbstaatliche Organisationen für die Beaufsichtigung und Lizenzierung vieler Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft. Das Ziel: gut dotierte Posten für hohe Beamte nach ihrer frühen Pensionierung zu schaffen. Viele Spitzenbürokraten wechseln dann auch zu Unternehmen in dem Bereich, für den sie als Beamte zuständig waren. Amakudari (vom Himmel herabsteigen) nennt sich diese Selbstbedienung.Darauf haben die Politiker mit Reformen der Verwaltung reagiert. Premier Abe und sein Kabinettschef Suga nahmen so viele Machtfäden wie nie in die Hand, die Beamten lenken weniger und verwalten mehr. Daher träumen weniger Absolventen der Topuniversitäten von einer Staatskarriere. Zudem ist das Arbeitsumfeld so mies, dass Beamte es als “Friedhof des Lebens” beschreiben. Gemeint ist: Wegen totaler Überarbeitung stehe man als Staatsdiener permanent mit einem Bein im Grab.