So verdrängt Russland die Ukraine vom globalen Getreidemarkt
So verdrängt Russland die Ukraine vom globalen Getreidemarkt
Eduard Steiner, Moskau
Die moralische Aufregung um das geplatzte Getreideabkommen verdeckt ein rein ökonomisches Faktum: Die zwei Kriegsgegner sind Konkurrenten auf dem globalen Agrarmarkt. Und Russland sitzt auf großen Lagerbeständen. Ein genauer Blick auf die Zahlen zeigt, was sich da gerade verschiebt.
Krieg verschiebt Marktanteile – Streit um Dumpingpreise – Geplatztes Getreideabkommen wirkt sich stärker auf Mais- als auf Weizenexporte aus
Blendet man die moralische Frage um die globale Versorgung und auch noch die Tatsache aus, dass Russland und die Ukraine Kriegsgegner sind, könnte man bei dem am Montag geplatzten Getreideabkommen in Anlehnung an Bill Clinton durchaus behaupten: „It´s the economy, stupid“. Es geht bei beiden Kriegsparteien im Fall des Getreides ganz klar auch ums Geschäft und um Marktanteile in der Welt.
Entsprechend sind auch diverse Wortmeldungen zu interpretieren. Aus Russland fielen sie recht eindeutig aus. So stellte Präsident Wladimir Putin klar, dass Russland nur dann bereit sei, das Abkommen wieder aufzunehmen, wenn auch die Verpflichtungen gegenüber Moskau – nämlich eine Erleichterung der russischen Agrarausfuhren – erfüllt seien.
Derweil geht es für Russland und die Ukraine um viel. Für Russland sind schon allein die genannten Verpflichtungen, wie sie im Russland-Uno-Memorandum stehen, bedeutsam. Konkret gemeint ist die Wiederherstellung des Swift-Zugangs für die Rosselchosbank (Landwirtschaftsbank), eine der landesweit größten Banken. Dazu die Öffnung für den russischen Düngemittelexport und die Wiederherstellung der kürzlich beschädigten Exportpipeline für Ammoniak nach Odessa.
Über allem aber geht es im Bereich des Getreideexports – des Kernstücks des Abkommens – auch darum, dass Russland mit seinem Kriegsgegner global im Wettbewerb steht und sichtlich Marktanteile gewinnen will. „Wir sind direkte Konkurrenten, und Russland will die Ukraine vom Markt verdrängen und sie so einer wichtigen Einnahmequelle berauben“, sagt Andrej Schischazkyj, geschäftsführender Partner des Agrounternehmens Uspich, das in der Ukraine 22.000 Hektar bewirtschaftet, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Eine Verschiebung der Marktanteile finde bereits statt, bestätigt auch Franz Sinabell, Agrarökonom am österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo: „Die Daten zeigen, dass die Russen Marktanteile zuungunsten der Ukraine gewinnen.“
Der Statistik des International Grains Council zufolge liegt bei Weizen der Prognosewert für Russlands globalen Exportanteil derzeit bereits bei 22,3%, während es ein Jahr davor 16,6% waren. Demgegenüber ging der Prozentsatz der Ukraine von 9,7 auf nun voraussichtlich 8,3% zurück und dürfte im nächsten Jahr nur noch bei 5,8% liegen. Dazu trägt laut Schischazkyj auch bei, dass dieses Jahr durch einen Mangel an Dünger, die Verminung mancher Anbauflächen und die Flucht mancher Agrarunternehmer ein signifikanter Rückgang der Ernte zu erwarten sei. Einmal abgesehen davon, dass das Getreide aus den von Russland besetzten Gebieten bereits in die russische Statistik einfließe.
Die russische Ernte konnte zuletzt mit einem neuen Rekord aufwarten. Für das Ende Juni abgelaufene Erntejahr 2022/23 wurde eine Ernte von 157,7 Mill. Tonnen Getreide, davon 104,2 Mill. Tonnen Weizen, ausgewiesen. 60 Mill. Tonnen (57% mehr als ein Jahr zuvor) gingen in den Export und haben 41 Mrd. Dollar Umsatz gebracht, ließ Landwirtschaftsminister Dmitrij Patruschew vor zwei Wochen wissen. Patruschew, zuvor Chef der oben genannten Landwirtschaftsbank, ist Sohn von Nikolaj Patruschew, der Chef des russischen Sicherheitsrates ist und als eine der einflussreichsten Personen in Russland gilt.
Die Rekordernte hat dazu geführt, dass Russland laut Statistikamt zu Beginn der neuen Aussaat noch 17,3 Mill. Tonnen Weizen bzw. insgesamt 28,8 Mill. Tonnen an Getreide und Hülsenfrüchten in seinen Lagern liegen hatte.
Laut Uno wurden durch das Getreideabkommen binnen eines Jahres 32,8 Mill. Tonnen an Getreide und Agrargütern aus der Ukraine exportiert. Allein der Weizenpreis ging damit um 25% zurück, errechnete die „Financial Times“.
Russland ist dieser Umstand ein Dorn im Auge. Das Getreideabkommen sei entgegen den bemühten humanitären Zielen sofort auf eine kommerzielle Ebene übertragen worden, um die Interessen Kiews und seiner westlichen Schutzherrn zu bedienen, erklärte das russische Außenministerium und nannte als Nutznießer westliche Großkonzerne wie Cargill, DuPont oder Monsanto, die große Ackerflächen in der Ukraine besitzen. Außerdem seien nur 3% des ukrainischen Getreides in arme Länder gegangen (der Prozentsatz deckt sich mit dem der Weltbank), der Rest werde zu Dumpingpreisen in Europa gekauft und dort veredelt.
Das Getreideabkommen habe zudem dazu geführt, dass russischer Weizen mit einem Preisabschlag von 10 bis 20 und zeitweise gar bis 70 Dollar je Tonne gehandelt worden sei, erklärte Arkadi Slotschewski, Präsident des russischen Getreideverbandes, gegenüber russischen Medien.
Agrarunternehmer Schischazkyj hält dem entgegen, dass Russland selbst ein Preisdumping bei seinen Agrarprodukten betreibe und auf diese Weise die Ukraine fast gänzlich von ihrem zuvor wichtigsten Absatzmarkt China verdrängt habe und auf andere ukrainische Märkte dränge.
Dies ist umso bedeutsamer, als die Bruttowertschöpfung der Landwirtschaft 10,6% des ukrainischen BIP beträgt, während es in Russland nur 3,8% sind.
Die ukrainischen Agrarunternehmen reagieren bereits auf die Situation und ersetzen den Getreideanbau durch mehr Sonnenblumen, Soja oder Raps, bei denen die Verarbeitung zu 90% in der Ukraine stattfindet. Und sie setzen auf Mais, wo ihr Anteil am globalen Export bei 15% liegt. Das geplatzte Getreideabkommen hat denn auch größere Folgen für den Mais- als für den Weizenexport. Der Getreidekorridor durchs Schwarze Meer wurde nämlich in erster Linie für die Ausfuhr von Mais genutzt, schreibt die Commerzbank. Dies sei gerade für die EU relevant, die aktuell laut US-Landwirtschaftsministerium ein Viertel ihres Maisbedarfs importieren dürfte – „und für die die Ukraine damit eine wichtige Bezugsquelle gewesen wäre“.