UNTERM STRICH

Sommermärchen und andere Déjà-vu-Erlebnisse

Börsen-Zeitung, 11.6.2016 Deutschland im Fußballfieber, hohe Volatilität an den Finanzmärkten, Sorgen über zunehmende globale Ungleichgewichte, Preisblasen bei Immobilien, Bayer im Übernahmerausch und die Deutsche Börse im Fusions- und...

Sommermärchen und andere Déjà-vu-Erlebnisse

Deutschland im Fußballfieber, hohe Volatilität an den Finanzmärkten, Sorgen über zunehmende globale Ungleichgewichte, Preisblasen bei Immobilien, Bayer im Übernahmerausch und die Deutsche Börse im Fusions- und Konsolidierungsgetümmel. Schlaglichter aus Deutschland im Sommer 2016? Mitnichten. Vielmehr Schlagzeilen aus dem Sommer 2006. Damals wurde fußballerisch bekanntlich das Sommermärchen geschrieben, den Deutschen die Freude am Public Viewing beigebracht, und Fußballspiele wurden zu gesellschaftsfähigen Events geadelt. Und es war der letzte unbeschwerte Sommer an den Finanzmärkten. Am Horizont waren schon dunkle Gewitterwolken auszumachen, allerdings nur für jene, die einen etwas weiteren Blick hatten.An Unwetterwarnungen hat es vor zehn Jahren wie auch heute nicht gefehlt. Das grundsätzliche Problem des Finanzsystems sei die globale Renditejagd, die die Investoren verführt haben könnte, übermäßige Risiken einzugehen, schreibt beispielsweise die Europäische Zentralbank (EZB) in ihrer halbjährlichen Financial Stability Review Anfang Juni 2006 (!). Sehr niedrige, risikolose Zinssätze und eine hohe Liquidität hätten die Investoren veranlasst, nach höheren Erträgen in riskanteren Märkten zu suchen. Dadurch seien die Assetpreise möglicherweise über ihren inneren Wert gestiegen, so die EZB damals. Aber in welcher der Assetklassen der Blitz als Erstes einschlagen würde, das konnte man auch damals noch nicht vorhersagen. Die Meteorologen in den Notenbanken verkannten und verkennen weiterhin, dass sie nur noch bedingt die Lösung des Problems, sondern zunehmend Teil des Problems sind. Mit ihrer marktopportunistischen und konjunkturpolitisch geleiteten Geldpolitik war allen voran die US-Notenbank Fed dabei, die Finanzmärkte vom Hoch zum Tief und umgekehrt zu treiben. Zur Erinnerung: Die Fed schleuste seinerzeit den Leitzins im Quartalsrhythmus nach oben, im Juni 2006 stand er nach 16 Zinserhöhungen bei 5,25 %. Die EZB folgte mit Verzögerung, im Euroraum lag der Leitzins damals erst bei 2,75 %, die Inflationsrate bei 2,5 %. HäuserpreisboomGottlob waren die Finanzmarktteilnehmer auch vor zehn Jahren nicht allein auf die Wetterfrösche der Zentralbanken angewiesen. Deren verschwurbelte Warnungen wurden leicht übersehen, Klartext gehörte noch nie zu den Stärken der Notenbank, wie folgender Satz aus der erwähnten EZB-Review illustriert: “Es gibt Hinweise, dass der verschärfte Wettbewerb im Hypothekenkreditmarkt zu weicheren Konditionen bei der Kreditvergabe geführt haben könnte.” In der Börsen-Zeitung beispielsweise hatte man im März 2006 lesen können, dass die Häuser- und Wohnungspreise in den USA schon seit 2001 um durchschnittlich 14 % pro Jahr gestiegen waren und in einigen Metropolen wie Los Angeles, Miami, New York und Boston sogar mit ungesunden Jahresraten von bis zu 40 %. Das von den Boompreisen getriebene, laufend steigende Angebot drückte zunehmend auf einen von den Zinserhöhungen eingebremsten Markt. Auch immer fantasievollere Kaufanreize konnten die Häuser nicht mehr unters hoch verschuldete US-Volk bringen. Im Juni 2006 erreichten die Häuserpreise in den USA ihren Peak. Von da an ging’s bergab, erst mit dem Immobilienmarkt und dann mit der ganzen Volkswirtschaft.Steil bergauf ging es dagegen vor genau zehn Jahren für Bayer, die heute vor einem ähnlichen Sprung stehen wie damals. 2006 machten die Leverkusener ihre mit 18 Mrd. Euro bis vor kurzem größte Akquisition perfekt, den Kauf von Schering, und warfen Mitbewerber Merck aus dem Rennen. Verglichen mit den nun von Bayer für Monsanto gebotenen 55 Mrd. Euro nimmt sich der Schering-Kauf rückblickend als bescheidener Deal aus. Doch ist zu sehen, dass Bayer selbst damals nur einen Börsenwert von 26 Mrd. Euro auf die Waage brachte, verglichen mit 76 Mrd. Euro aktuell. In Relation also waren die Gewichte von Käufer und Übernahmeziel damals wie heute sehr ähnlich.Und was war mit der Deutschen Börse? Genau zehn Jahre ist es her, dass die Mehrländerbörse Euronext für 8 Mrd. Euro an die New Yorker Börse (Nyse) ging und die ebenfalls interessierte Deutsche Börse das Nachsehen hatte. Dass vermeintliche Verlierer im Konsolidierungswettlauf – und das war vor zehn Jahren nach übereinstimmender Einschätzung aller Fachleute die Londoner LSE – die Flinte nicht ins Korn werfen müssen, hat die London Stock Exchange eindrucksvoll bewiesen. Damals konnte die LSE mit einer Börsenbewertung von gut 4 Mrd. Euro den Frankfurtern bei weitem nicht das Wasser reichen, die im Sommer 2006 auf 11 Mrd. Euro Marktkapitalisierung kamen und mit den bis Jahresende erreichten 14 Mrd. Euro der marktschwerste Börsenbetreiber weltweit waren. Danach folgte aus Frankfurter Sicht eine verlorene Dekade. Der Börsenwert ist mit 15 Mrd. Euro heute kaum größer als einst, was nur noch für Rang 4 unter den Börsenbetreibern reicht. Währenddessen ist der Wert der LSE weiter auf 12 Mrd. Euro geklettert und erlaubt, fast auf Augenhöhe in die Fusion zu gehen und sogar den Sitz der künftigen Börsenholding zu fordern. Ein schlechteres Timing für die Fusion kann es aus Frankfurter Perspektive also kaum geben; es ist nur mit Torschlusspanik zu erklären. Der Crash wird vertagtWiederholt sich Geschichte? Vor zehn Jahren folgte auf das Sommermärchen die US-Immobilienkrise, die sich zur weltweiten Banken- und Finanzkrise auswuchs und bis heute nicht abschließend bewältigt ist. Die Gefahr, dass schon in diesem Sommer die geldpolitisch induzierten Assetpreisblasen platzen, ist gering. Fed-Chefin Yellen weiß, dass sich in den USA weder der mit 104 % des BIP verschuldete Staat noch die bereits wieder bis über beide Ohren hoch verschuldeten privaten Haushalte die Rückkehr zur Zinsnormalität leisten können. Die Fed wird alles tun, damit Barack Obama am Ende seiner Amtszeit nicht als Crash-Präsident in die Geschichte eingeht.—-c.doering@boersen-zeitung.de——–Von Claus DöringFolgt nach dem Sommermärchen wieder eine Finanzkrise? Zumindest nicht sofort; darauf wird die US-Notenbank Fed achten.——-