Sorgen vor neuem Flächenbrand begrenzt
Wie groß ist die Gefahr, dass sich das Taper Tantrum von 2013 wiederholt, dass also ausländische Anleger fluchtartig Kapital aus Emerging Markets (EM) abziehen, sobald die US-Notenbank Fed eine Abkehr von ihrer sehr lockeren Geldpolitik andeutet?
Tatiana Lysenko, Leitende Volkswirtin EM, S&P Global: Die Anpassungen an die jüngste Erhöhung der langfristigen US-Zinsen verliefen überwiegend geordnet, da sie mit höheren globalen Wachstumserwartungen einhergingen – eine Dynamik, die für die Schwellenländer von Vorteil ist. Anders als 2013 waren die Bewegungen bei den kurzfristigen US-Zinsen dank der Forward Guidance der Fed minimal. Die zunehmende Divergenz zwischen dem Aufschwung in den USA und dem Rest der Welt könnte Zins- und Wachstumsdifferenzen eröffnen, die zu Kapitalabflüssen, Währungsabwertungen und Finanzmarktvolatilität führen könnten.
Mauro Toldo, Leiter EM Makro Research, DekaBank: Wir haben in den ersten Monaten des Jahres einen kleinen Vorgeschmack darauf bekommen: Im Februar kam es als Reaktion auf steigende US-Zinsen zu nennenswerten Kapitalabflüsse aus den Schwellenländern. Die Lage beruhigte sich aber schnell, denn der jüngste Renditeanstieg ist keine Reaktion auf exzessive Inflation, sondern ein Zeichen verbesserter Konjunkturaussichten durch Impferfolge und Fiskalpakete in den USA. Sollte die Fed gezwungen sein, auf ernste Inflationsgefahren zu reagieren, dann würde das Schwellenländer stärker belasten.
Denise Simon, Co-Chefin EM Debt, Lazard AM: Die Schwellenländer sind wesentlich stabiler aufgestellt als 2013, und das Risiko eines ähnlichen Szenarios ist daher begrenzt. Damals lag ihr durchschnittliches Leistungsbilanzdefizit bei rund 3%, während die Leistungsbilanzen heute meist ausgeglichen sind. Das Risiko abrupter Abflüsse ist viel geringer, da ausländische Positionen an den lokalen Bondmärkten deutlich kleiner sind. In den anderthalb Jahren vor dem Taper Tantrum verzeichneten EM-Anleihefonds in Lokalwährung Rekordzuflüsse von rund 150 Mrd. Dollar, seit Anfang 2020 waren es weniger als 20 Mrd. Dollar.
Klaus-Jürgen Gern, Institut für Weltwirtschaft (IfW): Die Gefahr ist beträchtlich. Zwar sind die Finanzierungsbedingungen für die Schwellenländer noch relativ günstig, weil die Märkte weiter mit billiger Liquidität geflutet werden und die Notenbanken angekündigt haben, die expansive Politik noch längere Zeit fortzusetzen. Jedoch könnte sich dies früher ändern als erwartet, wenn die US-Wirtschaft im Zuge der durch die massiven fiskalischen Impulse befeuerten Erholung von der Pandemie überhitzt.
William Jackson, Chefvolkswirt EM, Capital Economics: In diesem Umfeld, in dem die Renditen der US-Staatsanleihen steigen, besteht sicherlich eine hohe Wahrscheinlichkeit für mehr Volatilität an den Finanz- märkten der Schwellenländer. Allerdings erwarten wir keine Bewegungen in der Größenordnung wie 2013. In jedem Fall sind die Schwellenländer viel weniger anfällig für solche Ereignisse. Jene, die 2013 große Leistungsbilanzdefizite aufwiesen, haben jetzt Überschüsse oder kleine Defizite – sie sind also viel weniger abhängig von ausländischem Kapital. Und ihre Währungen sehen viel näher am fairen Wert aus.
Welche Schwellenländer sind in dieser Hinsicht am anfälligsten? Wo sind die Risiken für Wirtschaft und Finanzmärkte am größten?
Tatiana Lysenko: Selbst in unserem Basisszenario einer „geordneten Reflation“ könnte es für einige aufstrebende Volkswirtschaften schwieriger sein, sich an höhere US-Renditen anzupassen, insbesondere für jene, deren außenwirtschaftliche und fiskalische Ungleichgewichte sich verschlechtert haben. Auf der fiskalischen Seite stechen Brasilien wegen der Schuldentragfähigkeit und Südafrika wegen der ohnehin hohen Finanzierungskosten hervor, während die erheblichen externen Anfälligkeiten der Türkei weiter zugenommen haben.
Mauro Toldo: Viele Länder haben den externen Finanzierungsbedarf durch einen Abbau der Leistungsbilanzdefizite verringert. Problematisch sind vor allem die Türkei oder Kolumbien. Die Pandemie hat zu einem gewaltigen Anstieg der öffentlichen Verschuldung auf breiter Front geführt. Das Schuldenmoratorium (DSSI) hat den Aufschub der Zahlungen für die ärmeren Länder bewirkt, allerdings nur bis zum Jahresende. Viele Länder mit etwa einer starken Tourismusabhängigkeit werden auch 2021 stark unter der Pandemie leiden.
Denise Simon: Die Türkei bleibt angesichts des immer noch hohen Leistungsbilanzdefizits, der geringen Nettoreserven, der hohen Inflation und der jüngsten abrupten Veränderungen in der Zentralbank anfällig.
Klaus-Jürgen Gern: Am anfälligsten sind die Länder mit hoher Auslandsverschuldung und die mit Leistungsbilanzdefiziten, wo das Versiegen von Kapitalzuflüssen zu finanziellen Engpässen und einer Anpassungsrezession führen würde. Hierzu zählen neben lateinamerikanischen Ländern insbesondere Südafrika, die Türkei und Indonesien. Gegenwärtig kommt für viele Schwellenländer Rückenwind von den Rohstoffpreisen. Die Rohstoffhausse hängt allerdings stark am Aufschwung in China, der deutlich an Schwung verloren hat.
William Jackson: Unter den großen aufstrebenden Volkswirtschaften ist die Türkei das Land, das für eine plötzliche Umkehr der ausländischen Kapitalzuflüsse („sudden stop“) besonders anfällig ist. Sie hat einen großen Außenfinanzierungsbedarf, und die Fähigkeit der Zentralbank, Fremdwährungsliquidität aus ihren Reserven bereitzustellen, ist begrenzt. Ansonsten konzentrieren sich die Risiken wahrscheinlich auf einige der kleineren Schwellenländer, wie Äthiopien und Tunesien.
Ist zu befürchten, dass es wie in früheren Fällen (Asien, Türkei) zu Währungskrisen in einer Region oder einem Land kommt, die auf andere Länder übergreifen und einen Flächenbrand auslösen?
Tatiana Lysenko: Wir erwarten keine breit angelegte Krise, da viele Schwellenländer im Vergleich zu früheren Stressphasen stärkere Fundamentaldaten haben, die ihnen helfen, externen Schocks zu widerstehen. Insbesondere sind die Außenhandelspositionen vielerorts stärker, mit Leistungsbilanzüberschüssen oder geringeren Defiziten als früher. Die Zentralbanken haben zudem Devisenreserven aufgebaut. Die realen Wechselkurse scheinen nicht überbewertet zu sein und sind in vielen Fällen unter ihren langfristigen Durchschnittswerten.
Mauro Toldo: Viele Länder haben in den vergangenen Jahren zunehmend flexible Wechselkurse eingeführt, was zu erhöhter Volatilität führt, aber die Gefahr von Währungskrisen eher verringert. Größere Länder haben sich stärker in eigener Währung verschuldet, weshalb Abwertungen die Schuldentragfähigkeit weniger belasten als früher. Zudem sind die Investoren eher bereit, Probleme als länderspezifisch zu erkennen und zu behandeln, ohne gleich die ganze Anlageklasse in Frage zu stellen.
Denise Simon: Wir erachten das Risiko eines Übergreifens länderspezifischer Schwächen auf andere Schwellenländer als gering. In der Türkei verlor die Lira bspw. bis zu 15% an Wert, nachdem Präsident Erdogan den Notenbankchef entlassen hatte, ohne gravierende Auswirkungen auf andere EM-Währungen. Dies ist aus unserer Sicht ein Beleg dafür, dass die Schwellenländer gereift sind. Sie sind zudem kein einheitliches Gebilde: Für jedes Land, das politische Fehler macht, gibt es ein anderes, das positive Strukturreformen durchführt.
Klaus-Jürgen Gern: Die Erfahrung des vergangenen Jahrzehnts zeigt, dass Umschwünge bei den Kapitalflüssen in die Schwellenländer zwar zunächst oft die gesamte Gruppe betreffen, die Finanzmärkte aber rasch zu differenzieren beginnen und ausgeprägte Domino-Effekte, wie sie noch in der Asienkrise Ende der 1990er zu beobachten waren, weniger wahrscheinlich geworden sind. Hierzu hat die Flexibilisierung der Wechselkurse, die in der Zwischenzeit erfolgt ist, wesentlich beigetragen.
William Jackson: Eine Ansteckung scheint unwahrscheinlich. Die Türkei wird wahrscheinlich am stärksten von einer Krise betroffen sein. Aber kein Schwellenland ist in gleichem Maße verwundbar. Sollte es in der Türkei zu einer Krise kommen, könnte es zu einem Übergreifen auf andere Schwellenländer kommen (z.B. durch erzwungene Verkäufe von EM-Assets), wodurch die Währungen fallen würden. Wir bezweifeln, dass die Bewegungen groß wären -– ausländische Investoren haben ihr Engagement in der Türkei in den letzten Jahren deutlich reduziert.
Vor dem Hintergrund deutlich erhöhter Staatsschulden experimentieren Zentralbanken erstmals in größerer Zahl mit Anleihekäufen. Droht eine Schuldenspirale, in deren Sog die Notenbanken nolens volens in die Rolle als Kreditgeber der letzten Instanz gezwungen werden?
Tatiana Lysenko: In den meisten Fällen war das erklärte Ziel, das reibungslose Funktionieren der Märkte aufrechtzuerhalten, nicht Regierungen bei der Finanzierung großer Defizite zu unterstützen. Die Käufe haben im Allgemeinen die Renditen von Staatsanleihen gedrückt und können als erfolgreich angesehen werden. Wenn Investoren jedoch beginnen, dies als langfristiges, strukturelles Merkmal zu betrachten, was bedeutet, dass Zentralbanken das Haushaltsdefizit „monetarisieren“, kann dies die Glaubwürdigkeit einer Zentralbank untergraben.
Mauro Toldo: Bisher haben nur wenige Schwellenländer dieses Experiment gewagt und verhalten sich bisher überwiegend sehr zurückhaltend. Diese Länder haben in der Regel eine breite lokale Investorenbasis, was ihnen einen gewissen Spielraum gibt. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass einige Länder angesichts der bisher guten Erfahrungen in den kommenden Jahren dieses Instrumentarium ausweiten werden. In Ländern mit eher schwachen Institutionen kann die Unabhängigkeit der Zentralbanken in Gefahr geraten.
Denise Simon: Die Notenbanken reagierten schnell und energisch auf die Pandemie. Fast alle senkten die Zinsen, viele legten Anleihekaufprogramme auf. Während die Notenbanken in den Industrieländern die quantitative Lockerung (QE) nutzten, um zusätzliche Impulse zu geben, setzten die der Schwellenländer QE hauptsächlich ein, um die Märkte zu unterstützen und die finanziellen Bedingungen in einer angespannten Phase zu lockern. Deshalb sind wir nicht übermäßig besorgt, dass die Zentralbanken zum Kreditgeber der letzten Instanz werden könnten.
Klaus-Jürgen Gern: Während der Pandemie sind auch zahlreiche Schwellenländer dazu übergegangen, die Finanzierung von Defiziten im Staatshaushalt durch den Kauf von Anleihen zu erleichtern. Der Druck auf die Notenbanken zu einer Fortsetzung dieser Politik dürfte noch zunehmen, wenn das Zinsniveau im Zuge einer geldpolitischen Straffung in den USA steigt und höhere Schulden weiter finanziert werden müssen. Das Risiko, dass dies letztlich zu einer Schuldenbereinigung über Inflation führt, ist erheblich.
William Jackson: Für Schwellenländer mit Staatsschuldenproblemen, deren Schulden hauptsächlich in lokaler Währung denominiert sind, ist dies möglich. Südafrika und Brasilien ragen in dieser Hinsicht wirklich heraus. Im Moment versuchen die politischen Entscheidungsträger, durch fiskalische Sparmaßnahmen die Schuldenquoten zu stabilisieren. Aber es ist nicht klar, ob das politisch vertretbar sein wird. Wenn nicht, könnten sie sich auf die Zentralbanken (oder Geschäftsbanken) stützen, um Schulden aufzukaufen und der Regierung zu helfen, sich zu finanzieren.
Die Fragen stellte Stefan Reccius