Sorgfaltspflichten-Deal entsetzt Wirtschaft
Sorgfaltspflichten-Deal entsetzt Wirtschaft
Einigung auf EU-Lieferkettengesetz – Verbände fordern Veto der Bundesregierung – Finanzbranche weitgehend außen vor
rec Brüssel
Das deutsche Lieferkettengesetz muss verschärft werden: Nach der Einigung über EU-weite Sorgfaltspflichten fordern Wirtschaftsverbände ein Veto der Bundesregierung. Sie protestieren unter Verweis auf noch mehr Bürokratie und Lasten für den Mittelstand. Die Finanzbranche bleibt außen vor – zumindest fürs Erste.
Wirtschaftsverbände reagieren mit großer Besorgnis bis Entsetzen auf die politische Einigung über ein EU-weites Lieferkettengesetz. Vertreter mehrerer Branchen fordern von der Bundesregierung, die in einer Nachtsitzung beschlossenen Sorgfaltspflichten mit einem Veto zu stoppen. Die Möglichkeit besteht, weil der Kompromiss noch technisch verfeinert und formal darüber abgestimmt werden muss.
Mit der Einigung von Europaparlament und EU-Staaten zum Lieferkettengesetz kommt eines der größten und umstrittensten Vorhaben der EU-Kommission zum Abschluss. Es wird für Unternehmen ab 500 Mitarbeitern und 150 Mill. Euro Jahresumsatz gelten. Sie müssen künftig darauf achten, dass Geschäftspartner entlang ihrer gesamten globalen Lieferketten auf Menschenrechte und Umwelt achten.
Banken und Co nur zu Klimatransitionsplänen verpflichtet
Der Finanzsektor bleibt hingegen bis auf weiteres weitgehend außen vor. Banken, Versicherer und Fondshäuser sind lediglich zu sogenannten Klimatransitionsplänen verpflichtet. Das bedeutet, sie müssen darlegen, wie sie ihre Geschäfte bis 2050 in Einklang mit den Pariser Klimazielen bringen wollen. Der erste Bericht wird 2030 fällig, ab dann alle fünf Jahre ein neuer. Das gilt für sämtliche Unternehmen.
"Die Finanzlobby hat sich gemeinsam mit der liberalen französischen Regierung durchgesetzt", sagt der SPD-Europaabgeordnete René Repasi. "Der Gesetzgeber stellt dem Finanzsektor einen Freibrief aus." Repasi spricht von einer verpassten Chance, den Finanzsektor wirksam in das EU-Lieferkettengesetz einzubinden. Die EU-Kommission ist aufgefordert, ein separates Gesetz speziell für die Finanzbranche vorzulegen. Diese politische Absichtserklärung sei ein schwacher Trost, sagt Repasi.
Versicherer erleichtert
EU-Industriekommissar Thierry Breton kündigte einen entsprechenden Vorschlag an, ohne dafür einen Zeitpunkt zu nennen. Er verwies auf sektorspezifische Gesetze in Bereichen wie kritische Mineralien und Entwaldung. Sorgfaltspflichten für die Finanzbranche waren bis zuletzt einer der Hauptstreitpunkte des Gesetzes. Die Pariser Regierung beharrte auf einer Komplettausnahme. Die Bundesregierung wollte Banken und Versicherer einbeziehen und abgestufte Regeln für Vermögensverwalter durchsetzen.
In der Versicherungswirtschaft macht sich Erleichterung breit. "Wir begrüßen die Entscheidung des Gesetzgebers, das Versicherungsgeschäft zunächst vom Anwendungsbereich auszunehmen", sagt Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands GDV. Andernfalls wäre nach Asmussens Darstellung unklar gewesen, "ob beispielsweise Industrieunternehmen noch ausreichend Versicherungsschutz bekommen können". Es sei gut, dass es hierzu zunächst eine fundierte Folgenabschätzung geben solle.
Für Unternehmen quer durch alle anderen Branchen zeichnen sich Sorgfaltspflichten ab, die über das deutsche Lieferkettengesetz hinausgehen. Es ist Anfang dieses Jahres in Kraft getreten und wird ab Januar auf Unternehmen ab 1.000 Beschäftigten ausgeweitet. Laut Kompromiss in Brüssel wird die Schwelle auf 500 sinken. Außerdem bekommen Opfer von Menschenrechtsverletzungen oder Umweltverstößen Anspruch auf Schadenersatz.
Mehr Bürokratie befürchtet
Vertreter der Wirtschaft protestieren unter Verweis auf noch mehr Bürokratie und Lasten für den Mittelstand. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger beklagt einen "übereilten und handwerklich schlecht gemachten Kompromiss". Achim Dercks von der Industrie- und Handelskammer sagt, die Regelungen seien weder praxistauglich noch verhältnismäßig.
Mehrere Verbände fordern die Bundesregierung zu Widerstand auf. "Der EU-Ministerrat muss die Notbremse ziehen!", fordert Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des Maschinenbauverbands VDMA. Wolfgang Große Entrup, Chef des Chemieverbands VCI, sagt: "Die Bunderegierung muss jetzt Farbe bekennen und ihre Zustimmung verweigern." Auch die Chefin des Industrieverbands BDI, Tanja Gönner, appelliert für eine Ablehnung.
Hintergrund: Der Rat der EU-Staaten und das Europaparlament müssen der Einigung zustimmen. Ein Beteiligter hält es für unwahrscheinlich, dass die Bundesregierung ausschert. Das Parlament habe weitreichende Zugeständnisse gemacht. Zugleich werden Erinnerungen an die Verhandlungen zu E-Fuels wach: Bundesverkehrsminister Volker Wissing sorgte für einen Eklat, indem er das fertige Gesetz im letzten Moment torpedierte.