Spießrutenlauf zur Mülltonne
Was mag gerade wichtigstes Gesprächsthema in der Wirtschaftsmetropole Schanghai sein? Die Wende im Handelsstreit zwischen China und den USA? Nein, nicht die Weltwirtschaft, sondern die Abfallwirtschaft. Mit dem 1. Juli ist der Tag X gekommen. Ab nun gelten neue Mülltrennungs- und Recyclingregeln, die ersten ihrer Art in China. Verstöße können mit Geldstrafen geahndet werden. Das bringt einschneidende Veränderung in den Alltag der Schanghaier, wühlt ihre Seelen auf und lässt sie manisch im Abfall wühlen.Die Stadtverwaltung klemmt sich mit gigantischem Aufwand hinter die Sache. Man ist Speerspitze einer landesweiten Aktion, die der Präsident lanciert hat. Bis Ende 2020 sollen 45 weitere Großstädte im Sog des Pilotprojekts moderne Abfallentsorgungskonzepte einführen. Schanghais Bürger, die als besonders strebsam und diszipliniert gelten, müssen der Nation den rechten Weg weisen und stehen unter hohem Anpassungsdruck.Bislang war alles einfach. In manchen Wohnanlagen gab es schon separate Tonnen. Sie hatten allerdings den Charme, lediglich nach außen Umweltbewusstsein zu demonstrieren, ohne ernst genommen werden zu müssen. Schließlich feierte ihr Inhalt bei der Abholung in ein und demselben Müllwagen stets traute Wiedervereinigung. Nun wird alles anders. Es gibt ein Vierfarbensystem: “Nasser Müll” (Küchenabfälle) kommt in die braune Tonne, trockener Müll (Verpackungen) in die schwarze, recyclingfähiges Material landet bei Blau, für “giftigen” Sondermüll ist warnendes Rot angesagt. Als probate Eselsbrücke gilt es, an ein Schweine zu denken: Nasser Müll ist alles, was ein Schwein essen könnte, trockener Müll, was ein Schwein nicht essen mag, giftiger Müll, was ein Schwein umbringen würde.Was in der Theorie so eingängig wirkt, ist in der Praxis hoch kompliziert. Hühnerknochen etwa sind nasser, Schweine- und Rinderknochen aber trockener Müll. Bei Nüssen gilt die Schale als trocken und der Kern als nass. Muscheln und Hummerscheren sind “trocken”, Krabben- und Flusskrebsreste wiederum nicht. Mehl, Trockenpilze und ungekochte Nudeln gelten trotz nicht erkennbaren Feuchtigkeitsgehalts als “nass”. Ein halb gegessener Maiskolben ist so nicht korrekt entsorgbar: Dazu müsste man die Maiskörner abnagen, nass entsorgen, und den Stumpf ins Trockene bringen. Einen gebrauchten Teebeutel rechtskonform zu verwerten, heißt die Metallklammer zu recyceln, Faden, Etikett und Beutelhülle in den trockenen Sack zu legen und die Teeblätter zum nassen Küchenabfall zu geben.Die Schanghaier reagieren einerseits amüsiert auf das häusliche Müllsortierungspuzzle, fürchten andererseits aber nun den Gang zum Müllplatz. In manchen Gebäudekomplexen wurden gar “Besuchszeiten” eingeführt. Man hat nur zwischen 8 und 11 Uhr am Morgen und 17 bis 20 Uhr abends Zugang zur bunten Tonnenriege. Dort steht Überwachungspersonal, das mit scharfer Interrogationstechnik und Stichproben für Regelkonformität sorgt und ertappte Sünder unter Strafandrohung für einen neuen Sortierungsanlauf wieder nach Hause schicken kann.Das neue Müllentsorgungszeremoniell kann mit einem tiefen Einschnitt in die Privatsphäre einhergehen. Insbesondere in älteren Wohnbezirken fungieren traditionelle Nachbarschaftskomitees als Müllwächter. Das sind meist Rentner, die wertkonservative Vorstellungen mit Einmischungselan, Denunzierungsdrang und hoher Klatschfreudigkeit verbinden. Sie wissen mit nichtdigitaler “Gesichtserkennungstechnologie” einen jeden Nachbarn kritisch einstufen und erhalten nun über die Müllsackkontrolle neue Einblicke in Lebensgewohnheiten.In manchen Hochhaustürmen ist die Disruption besonders groß. Dort wurden Etagentonnen mangels Überwachbarkeit abgeschafft. Man darf dann mit seinem sortierten Hausmüll unter kritischem Blick der Mitanwohner im Lift fahren, um den bisweilen langen Marsch zur Außendeponie im richtigen Zeitfenster anzutreten und dort auch noch Schlange zu stehen. Gute Seiten hat das Ganze natürlich auch: Denn geteiltes Leid in der Müllprüfungsschlange bringt gerade in anonymen Wohnblöcken ganz neue Nachbarschaftskontakte und Small-Talk-Gelegenheiten mit sich.