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Steter Quell der Verunsicherung

Von Andreas Hippin, London Börsen-Zeitung, 9.11.2019 Die Bank of England hat in ihrem jüngsten Inflationsbericht, der mangels Teuerung nun geldpolitischer Bericht heißt, auf die Gefahren der anhaltenden Unsicherheit durch den EU-Austritt...

Steter Quell der Verunsicherung

Von Andreas Hippin, LondonDie Bank of England hat in ihrem jüngsten Inflationsbericht, der mangels Teuerung nun geldpolitischer Bericht heißt, auf die Gefahren der anhaltenden Unsicherheit durch den EU-Austritt hingewiesen. Wie die Menschen die wirtschaftlichen Perspektiven beurteilen, spielt eine wichtige Rolle bei Entscheidungen zu Ausgaben und Investitionen. Wenn sie glauben, dass sie künftig weniger verdienen könnten, werden sie vermutlich ihr Geld zusammenhalten. Hält man die künftige Entwicklung für ungewiss, reicht das einer Reihe von Untersuchungen zufolge schon aus, um das Verhalten zu beeinflussen. Ein hohes Maß an Ungewissheit könne Investitionen und Konsum belasten und die Produktionskapazitäten verringern, heißt es in dem Bericht der Notenbankökonomen. Die große Bandbreite der möglichen Ergebnisse des Austrittsverfahrens habe die Unsicherheit erhöht und die Menschen pessimistischer gemacht – was den wirtschaftlichen Ausblick angehe. Zögerliche UnternehmenDas Wachstum der Unternehmensinvestitionen ist in fünf der vergangenen sechs Quartale zurückgegangen. Für die vergangenen drei Jahre belief es sich kumuliert auf 0,4 %. Britische Unternehmen hätten vom anhaltenden Niedrigzinsumfeld profitieren können, um Zukunftsinvestitionen zu tätigen. Sie haben es aber nicht getan. Tatsächlich trübte sich Umfragen wie dem Lloyds Business Barometer zufolge das Geschäftsklima seit dem Votum für den EU-Austritt merklich ein. Nun könnte auch die Verlangsamung der Weltkonjunktur eine Rolle dabei gespielt haben, dass Firmen gerade nicht in künftiges Wachstum investieren wollen. Allerdings war die britische Investitionstätigkeit im Vergleich zu anderen führenden Industrieländern schwächer.Der Brexit wird die Beziehungen des Vereinigten Königreichs zu seinem wichtigsten Handelspartner grundlegend verändern. In der Entscheiderbefragung der Bank of England (Decision Maker Panel Survey) hat bereits seit 2016 mindestens ein Drittel der Befragten die Entscheidung für den nationalen Alleingang als eine der größten Quellen der Unsicherheit für ihr Geschäft bezeichnet. In den jüngsten Umfragen lag dieser Wert bei 55 %. Wie es im geldpolitischen Bericht heißt, deuten die Ergebnisse der Befragung zudem darauf hin, dass sich das Niveau der Produktivität um 2 % bis 5 % verschlechtert hat. Der Großteil dieses Effekts gehe auf eine geringere Produktivität innerhalb von Firmen zurück. Das könne daran liegen, dass Ressourcen für die Brexit-Vorbereitungen abgezogen wurden.Ob sich die anhaltende Zurückhaltung bei den Unternehmensinvestitionen allein durch den Brexit erklären lässt, ist allerdings fraglich. Das dank EU-Freizügigkeit zur Verfügung stehende Heer von Niedriglöhnern dürfte in vielen Branchen seinen Teil dazu beigetragen haben, dass nicht in Automatisierung und Mechanisierung investiert wurde. Zudem bringen es neue Geschäftsmodelle mit sich, dass Investitionen vielleicht nicht als solche klassifiziert werden. Ist das Auto des Uber-Fahrers eine Investition? Was ist mit dem Notebook des Freelancers, auf dem er sich auch Filme ansieht? Und wie misst man Produktivität, wenn die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit zunehmend verschwimmen? Die Beispiele zeigen, dass wissenschaftlich wirkende Erklärungen schnell in Zweifel gezogen werden können, auch wenn sie mit Daten unterfüttert sind. Die Volkswirtschaftslehre ist eben keine Naturwissenschaft und steht, ihren komplexen mathematischen Modellen zum Trotz, in vielerlei Hinsicht der Astrologie näher als der Astrophysik.Die britischen Verbraucher sind nicht erst seit 2016 pessimistisch, was die künftige gesamtwirtschaftliche Entwicklung angeht. Interessanterweise hatte das keine Auswirkungen darauf, wie sie ihre eigenen finanziellen Perspektiven sehen. Tatsächlich war der private Konsum im Vergleich zu den Unternehmensinvestitionen erstaunlich robust, was auch daran liegen mag, dass die Wohnimmobilienpreise – und damit das für den Konsum auf Pump einsetzbare Vermögen – stabil geblieben sind. Angst vor Arbeitslosigkeit, von der die Kauflust getrübt werden könnte, ist am ehesten noch unter den 16- bis 29-Jährigen vorzufinden.Gehen die Umsätze des Einzelhandels einmal zurück, wird gerne auf den Brexit verwiesen. Es könnte aber auch an veränderten Konsumgewohnheiten liegen, etwa dem Umstand, dass mehr Menschen ihr Geld lieber dafür ausgeben, etwas zu erleben, als etwas nach Hause zu tragen oder geliefert zu bekommen. Zahlreiche Konzepte des Einzelhandels und der Systemgastronomie sind überholt. Ihr Verschwinden ist kein Hinweis auf eine tiefe Verunsicherung der Briten, was das künftige Verhältnis zum Kontinent angeht. Die eigentliche Frage ist vermutlich, um wie viel größer der private Konsum ohne Brexit ausgefallen wäre.Etwas bedenklich sollte stimmen, dass sich die Bank of England nur darin versucht, das künftige Ausmaß der Ungewissheit vorauszusagen. Die bereits erwähnte Entscheiderbefragung zeige, dass Unternehmen einem No-Deal-Brexit eine geringere Wahrscheinlichkeit zubilligen, seitdem der Austrittsvertrag in zweiter Lesung vom Parlament gebilligt wurde. Das sollte aus Sicht der Volkswirte der Zentralbank die Investitionsfreudigkeit anregen, sie unterstellen für 2021 ein Wachstum der Unternehmensinvestitionen von 4 %. Die Ungewissheit werde während ihres Prognosezeitraums schrittweise zurückgehen, während neue Einzelheiten der künftigen Beziehungen bekannt würden, heißt es im geldpolitischen Bericht. Dabei ist der Brexit mit dem Austritt aus der EU nicht abgehandelt. Damit fangen die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen erst an.Statt esoterische Mutmaßungen über die Ungewissheit anzustellen, sollte die Bank of England klare Ansagen machen. Dann gäbe es wenigstens keine Ungewissheit über die künftige Richtung der Geldpolitik mehr – und ein steter Quell der Verunsicherung wäre beseitigt.